Manu­skript der Gedenk­an­spra­che als PDF-Datei her­un­ter­la­den.

Textfassung (mit Abbildungen):

Der nach­fol­gen­de Bei­trag ist kei­ne Stu­dio­auf­nah­me. Es han­delt sich um den Ori­gi­nal­mit­schnitt einer Gedenk­an­spra­che, die ich am 15. Sep­tem­ber 2020 an den Grä­bern von Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger auf dem Fried­hof »Ewi­ger Frie­den« in Her­ford gehal­ten habe. Klei­ne­re tech­ni­sche Män­gel sind der beson­de­ren Situa­ti­on einer Auf­nah­me mit beschei­de­nen Mit­teln auf dem Fried­hof geschuldet.

Der Grab­stein für den Her­for­der Schlos­ser Hei­ko Ploe­ger ver­mit­telt — ein wenig zu groß und etwas auf­fäl­lig geformt — den Ein­druck, es han­de­le sich um das Ein­zel­grab eines Opfers des Nazi-Regimes. Tat­säch­lich sind hier jedoch zwei Men­schen beigesetzt.

Geschicht­li­che Erin­ne­rung und das Geden­ken an ver­gan­ge­ne Ereig­nis­se funk­tio­niert nach Geset­zen, die manch­mal selt­sam erschei­nen. Für die meis­ten Men­schen, die regel­mä­ßig an einem 15. Sep­tem­ber, dem Todes­tag von Hei­ko Ploe­ger, sein Grab besu­chen, ist das Geden­ken sicher­lich immer ver­bun­den mit war­men Spät­som­mer­ta­gen. Je spä­ter die Nach­mit­ta­ge dann wer­den, des­to röt­li­cher und wär­mer wird auch das Son­nen­licht, das auf einen etwas zu groß dimen­sio­nier­ten und auch etwas unge­wöhn­lich geform­ten Grab­stein trifft. Die­se Sze­ne­rie schafft immer auch eine beson­de­re Stim­mung.Die Inschrift des Steins lau­tet: Er starb für Wahr­heit, Frei­heit, Recht. Hier soll an jeman­den erin­nert wer­den, der für etwas Gutes gestor­ben ist, so als hät­te er das gewollt. An ein Opfer.

Das Gefühl des Spät­som­mers, auch die mit dem Pathos ihrer Zeit bela­de­nen Wor­te, prä­gen ein Bild für die Über­le­ben­den und für die Nach­ge­bo­re­nen. Was wir mit einer Geschich­te ver­bin­den und die rea­len Ereig­nis­se pas­sen manch­mal über­haupt nicht zusammen.

Um zu ver­ste­hen, was da geschieht und was dahin­ter steht, scheint es sinn­voll, noch ein­mal zurück zu gehen an den Anfang.

Wäh­rend der Gedenk­an­spra­che am 15. Sep­tem­ber 2020.
Foto: Niklas Gohrbandt

Hei­ko Ploe­ger wur­de am 12. Janu­ar 1946 hier bei­gesetzt. Heu­te unvor­stell­bar, hat­ten damals Kom­mu­nis­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten gemein­sam zur Teil­nah­me an die­ser Bei­set­zung auf­ge­ru­fen. Auf einem Flug­blatt von KPD und SPD in Her­ford hieß es: „Wir sind es dem Ermor­de­ten schul­dig, durch eine Mas­sen­be­tei­li­gung aller schaf­fen­den, anti­fa­schis­ti­schen Her­for­der aus Stadt und Land ihm die Ehre zuteil wer­den zu las­sen, die die­sem tap­fe­ren Kämp­fer gebührt.“

Man spürt es, hier ist acht Mona­te nach dem Kriegs­en­de deut­lich der Wunsch da, die Spal­tung der Arbei­ter­be­we­gung zu über­win­den, die vor 1933 den Auf­stieg der Nazis begüns­tigt hat­te. Fast könn­te man sagen, für Her­ford war die­se Bei­set­zung ein gesell­schaft­li­ches Ereig­nis. Das städ­ti­sche Orches­ter spiel­te, es sang der Volks­chor. Meh­re­re hun­dert Men­schen waren an die­sem Sams­tag­nach­mit­tag gekom­men, die gro­ße Mehr­zahl zu Fuß. Es galt noch die Sechs-Tage-Woche, das heißt, die meis­ten hat­ten noch bis zum Mit­tag arbei­ten müs­sen. Jetzt stan­den sie frie­rend auf der gro­ßen Frei­flä­che am Ein­gang des Fried­ho­fes, wo die Gedenk­fei­er statt­fand. Nach meh­re­ren Frost­ta­gen zuvor, reg­ne­te es bereits die gan­ze Woche.

Als Wal­traud Schlü­ter, die Nich­te von Hei­kos Ehe­frau Hen­ny Ploe­ger mit ihrer Mut­ter dort ein­traf, waren sie für einen Moment fas­sungs­los. Dort stan­den tat­säch­lich zwei Sär­ge auf­ge­bahrt. Bei­den sah man an, dass sie bereits in der Erde gewe­sen waren. Eines war der Sarg Hei­ko Ploe­gers, in dem er nach sei­ner Hin­rich­tung im Sep­tem­ber 1944 auf dem Dort­mun­der Haupt­fried­hof beer­digt wor­den war. Er war am Tag zuvor mit den Sär­gen von 11 wei­te­ren dort hin­ge­rich­te­ten Bie­le­fel­der Arbei­tern aus Dort­mund nach Ost­west­fa­len geschafft wor­den. Die ermor­de­ten Bie­le­fel­der wur­den in einem Ehren­feld auf dem Senne­fried­hof beigesetzt.

Auf dem »Ehren­feld« des Bie­le­fel­der Senne­fried­hofs wur­den, eben­falls am 12. Janu­ar 1946, 11 Arbei­ter bei­gesetzt, die, wie Hei­ko Ploe­ger, im Sep­tem­ber 1944 in Dort­mund hin­ge­rich­tet wor­den waren. Nach ihrer Ermo­dung waren sie zunächst auf dem Dort­mun­der Haupt­fried­hof beer­digt wor­den, nach Zeit­zeu­gen­aus­sa­gen, „an der Fried­hofs­he­cke ver­scharrt.“ Im Janu­ar 1946 wur­den die Toten für eine wür­di­ge Bestat­tung nach Bie­le­feld und Her­ford über­führt.

Dafür, dass Hei­ko Ploe­ger zurück nach Her­ford kam, hat­te ent­schei­dend Wil­helm Oster­ha­gen gesorgt, ein direk­ter Nach­bar der Ploe­gers in der Her­for­der Johan­nis­stra­ße. Er hat­te einen LKW mit Holz­ver­ga­ser besorgt, um den Leich­nam sei­nes Nach­barn aus Bie­le­feld zu holen. Am Mor­gen der Bei­set­zung war er mit dem­sel­ben LKW nach Osna­brück gefah­ren, um Hei­ko Ploe­gers dort leben­de  Eltern zu holen, damit sie an der Bei­set­zung teil­neh­men konnten.

Oster­ha­gen kann­te das Schick­sal der Ploe­gers nur zu gut. Er war KPD-Mit­glied. In den Anfangs­jah­ren der Nazi­herr­schaft hat­te er mit sei­nem Sohn Wil­ly heim­lich Flug­blät­ter gegen das Regime ver­teilt. Es spricht vie­les dafür, dass auch Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger an die­sen Aktio­nen betei­ligt waren. Der jun­ge Wil­ly Oster­ha­gen wur­de spä­ter 999er, das heißt er kam als poli­tisch »Unzu­ver­läs­si­ger« in ein poli­ti­sches Straf­ba­tail­lon. Er über­leb­te es nicht. Sei­ne Mut­ter ging an dem Kum­mer über den Tod ihres Soh­nes zugrun­de. Sie starb inner­halb weni­ger Mona­te danach.

Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger im Gar­ten­haus sei­ner Eltern in Osna­brück. Die Auf­nah­me stammt ver­mut­lich aus dem Jahr 1943.

Der zwei­te Sarg, der am 12. Janu­ar 1946 neben Hei­ko Ploe­ger auf­ge­bahrt war, gehör­te sei­ner Ehe­frau Hen­ny. Auch sie war ein hal­bes Jahr nach der Ermor­dung ihres Man­nes gestor­ben und in einem Ein­zel­grab auf dem Ewi­gen Frie­den bei­gesetzt wor­den. Nun war es offen­sicht­lich ihr Nach­bar Wil­helm Oster­ha­gen, der dafür sorg­te, dass die bei­den neben­ein­an­der beer­digt wer­den konnten.

Etwas ket­ze­risch gesagt, geriet Hen­ny Ploe­ger nun in die Rol­le, die Frau­en ihrer Gene­ra­ti­on all­ge­mein zuge­dacht wur­de. Nach außen stand ihr Mann im Vor­der­grund. Sie war die Frau »an sei­ner Sei­te«, immer da, immer unauf­fäl­lig, immer still. Auch für Hei­ko Ploe­ger war es – nach allem, was wir über ihn wis­sen – durch­aus nor­mal, wenn sie einen Pull­over für ihn strick­te oder ihm sei­ne Kan­ne Frie­sen­tee koch­te. Aber die Für­sorg­lich­keit der bei­den war wohl gegen­sei­tig. Offen­bar lieb­ten sie sich als Paar wirk­lich und begeg­ne­ten ein­an­der auf Augen­hö­he. Nichts spricht dafür, dass er sie hin­ter sich ver­deckt wis­sen woll­te, oder gar vergessen.

Wer also war die­se Frau, die hier seit 74 Jah­ren weit­ge­hend unbe­ach­tet begra­ben liegt?

Die Ant­wort beginnt wie­der mit ihrem Mann. Am 18. Janu­ar 1944 wur­de er ver­haf­tet. Ein grö­ße­res Roll­kom­man­do unter den Bie­le­fel­der Gesta­po-Beam­ten Karl Kauf­mann und Otto Reth­mei­er war an sei­nem Arbeits­platz in der soge­nann­ten Kano­nen­fa­brik der Fir­ma Dür­kopp in Kün­se­beck bei Hal­le auf­ge­taucht. Die Ver­haf­tungs­ak­ti­on rich­te­te sich gegen Ploe­ger und min­des­tens sechs wei­te­re Kollegen.

Aber hier wur­den kei­ne poli­ti­schen Heiß­spor­ne in Hand­schel­len gelegt. Abtrans­por­tiert wur­den 45- bis 55-jäh­ri­ge Ehe­män­ner und Fami­li­en­vä­ter. Fach­ar­bei­ter, die eigent­lich uner­setz­lich waren. Für sie gab es einen dra­ma­ti­schen Man­gel. Die Ver­haf­tung einer sol­chen Grup­pe aus der lau­fen­den Pro­duk­ti­on war eine Machtdemonstration.

Ohne die Zustim­mung und Mit­wir­kung der Unter­neh­mens­lei­tung war sie undenk­bar. Zu erklä­ren nur, weil es Män­ner waren, die in den Rauch­pau­sen  regel­mä­ßig die Köp­fe zusam­men­steck­ten. Rüs­tungs­ar­bei­ter, die sich gegen­sei­tig über die Kriegs­la­ge infor­mier­ten und die es immer häu­fi­ger wag­ten, das Ende der NS-Herr­schaft nicht nur für mög­lich, son­dern für wahr­schein­lich zu hal­ten – ja, sogar über ein bes­se­res Deutsch­land danach nachzudenken.

Wir dür­fen davon aus­ge­hen, dass sich die Nach­richt über die Ver­haf­tun­gen wie ein Lauf­feu­er im Unter­neh­men ver­brei­te­te. Die Gefan­ge­nen wur­den nach Bie­le­feld gebracht ins Poli­zei­ge­fäng­nis in der Tur­ner­stra­ße. Die dama­li­gen tech­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten lie­ßen es als weit­ge­hend aus­ge­schlos­sen erschei­nen, dass Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge und ande­re von der Akti­on erfuh­ren. Die Gesta­po-Beam­ten hat­ten Zeit, nun die Durch­su­chung der Woh­nun­gen der Ver­haf­te­ten und die Ver­neh­mun­gen ihrer Ange­hö­ri­gen vorzubereiten.

Der 18. Janu­ar 1944 war ein Diens­tag. Als Hen­ny Ploe­ger an die­sem Abend wie­der in ihrer Woh­nung in der Her­for­der Johan­nis­stra­ße ein­traf, kam sie von einem 10-Stun­den-Arbeits­tag. Sie arbei­te­te im Her­for­der Beklei­dungs­un­ter­neh­men Tofoh­te. Beklei­dung, das hieß in den Jah­ren des tota­len Krie­ges, Uni­for­men und Mili­tär­män­tel. Min­des­tens sech­zig Stun­den an sechs Tagen in der Woche.

Drau­ßen war es längst dun­kel und unge­müt­lich, nass­kalt, um null Grad. Es fällt nicht schwer, sich vor­zu­stel­len, wie sie sich dar­auf freu­te, den Koh­le­herd in ihrer aus­ge­kühl­ten Wohn­kü­che wie­der anzu­hei­zen. Auch sich selbst mit einem Getränk auf­zu­wär­men. Bis sie den Tee für Ihren Hei­ko auf­set­zen konn­te, wür­de es wohl noch etwas dau­ern. Er kam mit der Bahn aus Kün­se­beck und muss­te in Brack­we­de umsteigen.

An Sonn­ta­gen leis­te­te sich Hen­ny Ploe­ger den beschei­de­nen Luxus von ech­tem Boh­nen­kaf­fee. Ein vier­tel Pfund davon durf­te Nich­te Wal­traud etwa alle zwei Wochen für ihre Tan­te ein­kau­fen. Sie mach­te das nur zu ger­ne, denn meis­tens konn­te sie dann sonn­tags auch die Hand­kur­bel der Kaf­fee­müh­le drehen.

Eine der weni­gen Auf­nah­men Hen­ny Ploe­gers, ver­mut­lich auf­ge­nom­men von Hei­ko Ploe­ger im dama­li­gen Obst­mus­ter­gar­ten in Herford. 

Wie in den Haus­hal­ten der klei­nen Leu­te üblich, wur­de auch bei den Ploe­gers der Prütt, also der Kaf­fee­satz, nicht weg­ge­wor­fen. Was sonn­tags übrig­blieb, wur­de auf­be­wahrt, um wochen­tags zum „Zwei­ten Auf­guss“ zu wer­den, meis­tens mit etwas Ersatz­kaf­fee ange­rei­chert, der im Volks­mund „Mucke­fuck“ oder Blüm­chen­kaf­fee genannt wur­de. Was dann noch übrig­blieb, kam als Dün­ger an die Kak­teen, die Hei­ko Ploe­ger auf dem Fens­ter­brett züchtete.

Ich erwäh­ne die­se Din­ge nicht, um eine nai­ve Nost­al­gie der Klei­nen Leu­te zu pfle­gen. Sol­che Din­ge erschei­nen mir wich­tig, weil unser heu­ti­ges Bild von Ver­fol­gung und Wider­stand viel zu häu­fig geprägt ist von Hol­ly­wood-Scha­blo­nen, in denen stahl­har­te Män­ner mit mar­kan­ten Gesichts­zü­gen und fus­sel­frei­en Uni­for­men immer kon­se­quent ihren Weg gehen.

Ein Tom Crui­se mit Stauf­fen­berg-Augen­klap­pe, muss in »Ope­ra­ti­on Wal­kü­re« natür­lich nie hei­zen, auch nie Koh­len schlep­pen. Wenn er sich auf etwas freu­te, dann war es ganz sicher nie eine war­me Tas­se zwei­ter Auf­guss mit Mucke­fuck zum Fei­er­abend. Dass die Ploe­gers bis jetzt über­lebt hat­ten, ver­dank­ten sie sicher auch der Tat­sa­che, dass sie nicht nach einem Hol­ly­wood-Sche­ma leb­ten. Men­schen, die tat­säch­lich im NS-Staat über­le­ben woll­te, die muss­ten sie sich ver­hal­ten, als leb­ten sie in Feindesland.

Aber zurück zum 18. Janu­ar 1944 in der Johan­nis­stra­ße. Wir dür­fen davon aus­ge­hen, dass die Gesta­po­be­am­ten Karl Kauf­mann und Otto Reth­mei­er vor einer völ­lig über­rasch­ten, wahr­schein­lich auch fas­sungs­lo­sen Hen­ny Ploe­ger stan­den, als sie in ihren Klep­per-Män­teln bei ihr schell­ten. Ver­mut­lich hat­te sie auch Angst. Ob sie das gezeigt hat, wis­sen wir nicht. Wie es in ihr aus­ge­se­hen haben mag, als sie von der Ver­haf­tung ihres Man­nes hör­te, kön­nen wir uns wohl kaum vorstellen.

Es gibt kei­ne Aus­sa­gen oder Doku­men­te über den Ver­lauf die­ser Haus­durch­su­chung. Alle Unter­la­gen von Gesta­po und Staats­an­walt­schaft zu die­sem Ver­fah­ren wur­den 1945 ver­nich­tet. Ver­mut­lich führ­te Reth­mei­er das Beschlag­nah­me­pro­to­koll für die Ermitt­lungs­ak­ten, wäh­rend Karl Kauf­mann dro­hend und pol­ternd durch die Woh­nung zog. Von ande­ren Aktio­nen ist bekannt, dass die bei­den immer wie­der im Stil von »Good Cop – Bad Cop« vor­gin­gen. Es ging dar­um, ihre Opfer mit einer Mischung aus wüs­ten Dro­hun­gen und ver­meint­li­cher Freund­lich­keit gefü­gig zu machen. Mit Sicher­heit beschlag­nahm­ten sie die Radio­an­la­ge der Ploe­gers, gewis­ser­ma­ßen das Beweis­stück für die ver­meint­li­chen Rund­funk­ver­bre­chen, das Abhö­ren der soge­nann­ten Feindsender.

Denk­bar ist, dass sie auch Hei­ko Ploe­gers Exem­plar des Romans „Im Wes­ten nichts Neu­es“ fan­den. Er hat­te es 1928/29 in der Gewerk­schafts-Buch­hand­lung im Her­for­der Volks­haus am Alten Markt gekauft. Kurz zuvor hat­ten Hen­ny und er gehei­ra­tet. Das Buch mar­kier­te gewis­ser­ma­ßen sei­nen Zugang zur Arbei­ter­be­we­gung, den er mit ihr und ihrer Fami­lie gefun­den hat­te: Volks­haus, das bedeu­te­te für ihn Metall­ar­bei­ter­ge­werk­schaft, Buch­hand­lung, der Kon­sum­ver­ein, Arbei­ter-Schach-Club, Arbei­ter-Radio-Bund, dazu die SPD, die sich damals noch vor­nehm­lich als Par­tei der arbei­ten­den Men­schen ver­stand. Das war ein­mal eine eige­ne Kul­tur, eine eige­ne Welt gewe­sen. Remar­ques Roman gehör­te 1933 zu den offi­zi­ell ver­brann­ten Büchern.

Wir dür­fen sicher sein, dass Hen­ny Ploe­ger bei der Durch­su­chung ver­nom­men wur­de. Ver­haf­tet wur­de sie nicht. Das spricht dafür, dass sich die Akti­on haupt­säch­lich gegen die Dür­kopp-Arbei­ter richtete.

Ganz sicher wird Hen­ny Ploe­ger von Kauf­mann und Reth­mei­er gewarnt wor­den sein, mit ande­ren über die Details der Ver­haf­tung ihres Hei­ko zu spre­chen. Mit wem sie sprach und was sie dabei sag­te, ist nicht bekannt. Viel­leicht ist dies auch ein Hin­weis dar­auf, wie allein und auf sich gestellt sie ab die­sem Zeit­punkt war.

Sicher­lich konn­te sie mit ihren Eltern reden, die gut 150 Meter ent­fernt in der Tri­ben­stra­ße leb­ten. Ein ande­rer Ansprech­part­ner war ver­mut­lich der Nach­bar Wil­helm Oster­ha­gen. Er hat­te poli­ti­sche Ver­fol­gung selbst erlebt und ver­mut­lich noch Kon­takt zu ande­ren »Poli­ti­schen« hat­te. Aber natür­lich bedeu­te­te solch ein Kon­takt Chan­ce und Risi­ko zugleich.

Ver­bin­dung zu Hei­ko Ploe­gers Eltern in Osna­brück war mög­lich, aber schwie­rig. Sie und auch die Ploe­gers hat­ten kei­nen Tele­fon­an­schluss. In sol­chen Fäl­len was es üblich, jeweils in einer Knei­pe in der Nach­bar­schaft anzu­ru­fen und dann eine Anruf­zeit zu ver­ein­ba­ren. Aber die Ver­haf­tung eines Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen aus poli­ti­schen Grün­den war nun mal kein The­ma, um dar­über öffent­lich hör­bar am Tele­fon in einer Knei­pe zu reden.

Aber kein Gespräch, mit wem auch immer, konn­te ihr hel­fen, das zu fin­den, was sie wirk­lich woll­te: wis­sen, wo ihr Hei­ko war, wie es ihm gehen moch­te, wie groß die Gefahr und die Bedro­hung für ihn wirk­lich war, ob sie oder ande­re ihm irgend­wie hel­fen konnten.

 

Bei der Kranz­nie­der­le­gung auf dem Fried­hof Ewi­ger Frie­den am 15. Sep­tem­ber 2020 anläss­lich des Jah­res­ta­ges der Ermor­dung Hei­ko Ploe­gers.
Foto: Niklas Gohrbandt

Kauf­mann und Reth­mei­er wer­den ihr gesagt haben, dass Hei­ko Ploe­ger von jedem Kon­takt zur Außen­welt abge­schlos­sen war, so lan­ge die Gesta­po gegen ihn »ermit­tel­te«. Das bedeu­te­te: kei­ne Besu­che, kei­ne Brie­fe, kei­ne Pake­te. Einen ers­ten Brief von ihm dürf­te sie nach mehr als zwei Mona­ten, in der zwei­ten März­hälf­te bekom­men haben. Ploe­ger befand sich nun im Bie­le­fel­der Gerichtsgefängnis.

Ab jetzt durf­te er ihr alle zwei Wochen sonn­tags einen Brief schrei­ben. Wöchent­lich konn­te er einen Brief von sei­ner Frau erhal­ten. Sie durf­te ihn ab jetzt ein­mal im Monat besu­chen. Aber all die­se Din­ge waren nie ver­bind­lich. Brie­fe waren tage­lang, manch­mal über Wochen unter­wegs. Sie wur­den von der Zen­sur über­prüft. Min­des­tens ein Brief von ihm wur­de dabei »kas­siert«. Das bedeu­te­te, min­des­tens vier Wochen erhielt sei­ne Frau des­halb kein Lebens­zei­chen von ihrem Liebs­ten. Er erhielt den ers­ten Brief von ihr erst nach fast einem Vier­tel­jahr, am 15. April.

Besuchs­ter­mi­ne muss­ten vor­her schrift­lich bean­tragt wer­den. Wur­de sie geneh­migt, bedeu­te­te das jedoch nicht, dass sie auch zustan­de kamen. In min­des­tens zwei Fäl­len reis­te Hen­ny Ploe­ger umsonst nach Bie­le­feld, weil Karl Kauf­mann ihren Mann unan­ge­kün­digt zum Ver­hör ins Gesta­po-Gebäu­de geholt hatte.

Das tat­säch­li­che Aus­maß von Unrecht, Ver­fol­gung, Will­kür, Gemein­hei­ten, Pro­vo­ka­tio­nen war viel grö­ßer, aber schon so wird nach­voll­zieh­bar, dass bei bei­den alle Däm­me bra­chen, als sie sich in der ers­ten Mai­hälf­te, also nach fast vier Mona­ten, tat­säch­lich zum ers­ten Mal wie­der­se­hen konn­ten. In sei­nem nächs­ten Brief an sie schrieb er dar­über: „Du hast wohl einen ordent­li­chen Schreck gekriegt, wie Du mich sahst, und bei mir war die Erre­gung auch zu groß, dann ist man wei­cher, als man will.“

Bei die­sem Ter­min erken­nen sie offen­sicht­lich auch, dass sie bei­de nur noch Schat­ten ihrer selbst sind. Bereits in den ers­ten sie­ben Wochen sei­ner Haft hat­te Hei­ko Ploe­ger zwan­zig Kilo Gewicht ver­lo­ren. Essens­ent­zug gehör­te zu den bevor­zug­ten Fol­ter­me­tho­den der Bie­le­fel­der Gesta­po zur Erpres­sung von Aussagen.

Aber auch Hen­ny Ploe­ger war deut­lich abge­ma­gert. Das lag offen­sicht­lich dar­an, dass sie eine zusätz­li­che Arbeit ange­nom­men hat­te, um einen Rechts­an­walt beauf­tra­gen zu kön­nen. Aller­dings hielt sie dies vor ihrem Mann noch geheim. Spä­ter haben Hei­kos Eltern wohl eini­ges Geld dazu gegeben.

Aber einen Rechts­an­walt zu beauf­tra­gen, bedeu­te­te nicht, dass die­ser auch tätig wur­de. Hen­ny beauf­trag­te einen Bie­le­fel­der Anwalt für den Pro­zess vor dem Ober­lan­des­ge­richt in Hamm. Als die­ser vier­zehn Tage vor dem Pro­zess das Man­dat wegen Krank­heit zurück­gab, muss­te sie ver­su­chen, kurz­fris­tig einen Anwalt aus Hamm zu ver­pflich­ten. Natür­lich ohne dort jeman­den zu kennen

Sol­che Bei­spie­len geben viel­leicht ansatz­wei­se eine gewis­se Idee, wie unend­lich schwie­rig der unglei­che Kampf die­ser klei­nen zier­li­chen Nähe­rin aus Her­ford war gegen die funk­tio­nie­ren­de Büro­kra­tie und Jus­tiz eines Regimes war, das einen Ver­nich­tungs­krieg gegen das eige­ne Volk führte.

Kaum vor­stell­bar, aber es war wohl so, dass Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger sich zum letz­ten Mal am 15. August 1944 bei der Ver­kün­dung des Todes­ur­teils im Hamm sahen. Mit­ein­an­der reden konn­ten sie dort nicht mehr. Bis zu sei­ner Hin­rich­tung in Dort­mund konn­te Hen­ny Ploe­ger wohl nicht mehr zu ihm. Statt­des­sen war sie neben ihrer Arbeit uner­müd­lich unter­wegs, um Freun­de, Bekann­te und ande­re Men­schen zu fin­den, die bereit waren, Begna­di­gungs­ge­su­che für ihren Mann einzureichen.

Sie wuss­te nicht, wann das Urteil voll­steckt wur­de. Als ihr rund drei Wochen nach der Hin­rich­tung am 15. Sep­tem­ber der Ort sei­nes Gra­bes auf dem Dort­mun­der Haupt­fried­hof schrift­lich mit­ge­teilt wur­de, war sie bereits gesund­heit­lich zusam­men­ge­bro­chen. Sie hat­te wohl nie eine wirk­li­che Chan­ce, aber sie hat trotz­dem einem ver­bre­che­ri­schen Regime die Stirn gebo­ten, bis sie nicht mehr konn­te. Sie hat Wider­stand geleis­tet im bes­ten Sinne.

Kur­ze Zeit spä­ter wur­de bei ihr Magen­krebs fest­ge­stellt. Dar­an starb sie im März 1945. Eigent­lich wur­de sie mit ihrem Mann ermordet.

Ich wün­sche mir sehr, dass wir es schaf­fen, eine Form zu fin­den, an die­se ver­ges­se­ne muti­ge Frau zu erin­nern. Nicht mit einem wei­te­ren klot­zi­gen Stein und erst recht nicht mit einem wei­te­ren pathe­ti­schen Bekennt­nis. Ich den­ke, es soll­te eher dar­um gehen, die bei­den, die hier lie­gen, nicht mehr nur als Kämp­fer und auch nicht nur Opfer zu sehen, son­dern ihnen ihre Ruhe zu gönnen.

Ideen­skiz­ze für eine Grab­plat­te zum Geden­ken an Hen­ny Ploe­ger. Zeich­nung: Kris­ti­na Fügenschuh

Es gibt in einem der Brie­fe von Hei­ko Ploe­ger aus dem Gefäng­nis eine Stel­le, an der er sie ganz direkt anspricht: „Lie­be Hen­ny, weißt Du noch, Ende vori­gen Jah­res konn­te ich manch­mal ne gan­ze Zeit mit Dir Hand in Hand sit­zen, wie zu Anfang unse­rer Ehe, hof­fent­lich kommt noch die­ses Jahr die Zeit wie­der, wo wir alles um uns ver­ges­sen kön­nen.“ – Wenn es Men­schen gibt, die es ver­dient haben, alles um sich ver­ges­sen zu kön­nen, dann sind es die­se bei­den. Ich fin­de, das könn­te hier für Hen­ny Ploe­ger auf einer ange­mes­se­nen, beschei­de­nen Plat­te stehen.

Das Geden­ken an sol­che wie die­se bei­den ver­lei­tet leicht zum Pathos. Natür­lich haben sie gekämpft und natür­lich waren sie Opfer. Aber sie waren vor allem ganz nor­ma­le Men­schen mit ganz nor­ma­len Träu­men vom ganz ein­fa­chen, klei­nen Glück. Auch als sol­che feh­len sie noch heute.

 

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