Dass Fernsehformate wie die »Hitparade der Volksmusik« oder »Musikantenstadl« etwas mit Musik aus dem Volk zu tun haben, glauben vermutlich nur die wenigsten. Der Begriff Volkslied scheint viel zu oft sinnentleert, wenn zünftige Blechblas-Kapellen auf schunkelnde Trachtenträger treffen.
Spottlieder haben eine lange Tradition unter den wirklichen Volksliedern. In ihnen machen die Menschen — in der Regel die sogenannten Kleinen Leute — sich »ihren eigenen Reim« auf die Welt. Besonders auf die Herrschenden und auf die herrschenden Verhältnisse. Diese Tradition scheint in den Zeiten von Youtube und tragbaren Abspielgeräten für Musik. zu verschwinden. Dabei war Musik auch vor der Ära der allgegenwärtigen Unterhaltungselektronik schon überall — nur ein wenig anders.
Die Atmosphäre, in der Lieder entstehen
Bei der Arbeit wurde gesungen, gleichgültig ob »auf dem Bau« oder beim Wäschewaschen, ob hinter dem Lenkrad oder beim Wandern. Auch bei Familienfeiern gab es fast immer jemanden, der eine Gitarre, eine Mundharmonika oder eine »Quetsche« (Akkordeon) herausholte. Musik wurde nicht nur gehört. Sie wurde vor allem selbst gemacht.
Das war die Atmosphäre, in der auch Lieder entstehen konnten. Einfach so, aus der Situation heraus, ganz spontan. Volkslieder eben. Vor allem Spottlieder entstanden so.
Wo genau das Oetzmann-Lied entstanden ist, ist unbekannt. Auch von wem der Text stammt, ist vermutlich nicht mehr zu ermitteln. Als Melodie diente das weltbekannte »Lili Marleen«. So entstand ein Volkslied im allerbesten Sinn. Dann war es einfach da. Jetzt gehörte es allen. Volkseigentum,. ganz ohne Verstaatlichung.
Das Lied entstand in den Jahren nach 1945, als es Lebensmittel nur auf Marken zu kaufen gab. Besonders Fleisch war knapp. Rind- und Schweinefleisch waren zu Luxusgütern geworden. Wer sie sich nicht erlauben konnte, stellte sich dort an, wo es das »Arme-Leute-Fleisch« zu kaufen gab. Bei der »Freibank« am Städtischen Schlachthof und vor der Pferdeschlachterei. Die »Kleinen Leute« erkannte man auch daran, wo sie einkauften.
In Herford gab es zwei sogenannte Roß-Schlächtereien mit dem Namen Oetzmann. Sie wurden jeweils von Brüdern betrieben und befanden sich in der Credenstraße und im Holland. Dort kauften die Menschen — wenn es Fleisch gab — ihr »Trab-trab«. (Damals galt Pferdefleisch tatsächlich als minderwertig. Heute wird es von Ernährungswissenschaftlern als besonders wertvoll eingestuft.)
Aus dieser Geschichte entstand der Liedtext:
Die »Wiederentdeckung« des Oetzmann-Liedes
Als ich im September 2009 in der Herforder Volkshochschule erstmals einen Vortrag »Vom Kriegsende zum Wirtschaftswunder“ hielt, habe ich mit den rund 120 Besuchern — nach kurzem »Üben« das Oetzmann Lied gesungen. Das war vermutlich das erste Mal, dass es öffentlich vorgetragen wurde. Dieses wahrhaft historische Ereignis wurde damals — ohne mein Wissen — von Monika Schwidde, der VHS-Leiterin mit einer der ersten Handy-Kameras spontan gefilmt. Die Schwächen der damaligen Technik erklären die kleinen Mängel bei der Bild- und Tonqulität. Ich danke Frau Schwidde sehr, dass sie mir den Film für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.
Wie verbreitet das Lied einmal gewesen sein muss, erkennen Sie an dieser kleinen Episode: »Geübt« hatte ich mit den Zuhörern nur den ersten Teil des Liedes. Ab „Und alle Leute …“ wollte ich allein weiter singen. Aber hören Sie mal genau hin. Es saßen offensichtlich einige im Saal — vor allem Frauen — die das Lied kannten — und textsicher mitgesungen haben. Ein echtes Aha-Erlebnis …
Lieber Dieter,
es sind gerade die kleinen Dinge, auch derartige Lieder, die viel über die damalige Zeit und das Leben der einfachen Menschen aussagen.
Als ich diesen Text las, musste ich schmunzeln. Gerade vor ein oder zwei Tagen habe ich mich über die beiden mir bekannten Lieder zum Hamburger Sülzeaufstand schlau gemacht. Der Aufstand fand vor genau 100 Jahren statt und kostete mindestens 80 Menschen das Leben. Zum Jahrestag wurde über den Aufstand berichtet. Die beiden Lieder darüber haben bis heute überlebt. Na ja, das Lied “Warte, warte noch ein Weilchen” ist in diesem Zusammenhang sicher zu makaber 😉
Dein Schreibstil und Deine akribische Arbeit gefallen mir ausgesprochen gut und ich bin gespannt, wohin Dich Deine Spurensuche noch führt.
Lieber Erhard!
Na, Du liest ja Sachen ;-). — Hab Dank für Deine freundlichen Worte. Ja, es seht fast so aus, als käme manchmal nicht nur erst das Fressen und dann die Moral. Hier und da kommt scheinbar sogar noch ein kleines Stück Musik dazu.
P.S. Natürlich hat Erhard Krull absolut Recht, wenn er mit dem Hamburger Sülzeaufstand darauf aufmerksam macht, dass Hungersnot und soziale Proteste zusammengehören. Informationen zu den Hamburger Ereignissen gibt’s übrigens u.a. hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BClzeunruhen
und hier, u.a. mit einem kleinen NDR-Film zum Thema:
https://www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/Die-Suelze-Unruhen-in-Hamburg,suelzeunruhen100.html
Allerdings sollte man deutlich darauf hinweisen, dass es bei dem Herforder Oetzmann-Lied niemals um Gammelfleisch gegangen ist. Die Schlächtereien Oetzmann hatten einen guten Ruf.