Dritte Seite (21. November bis 27. November 2022)
Montag, 21. November 2022
Heute Morgen habe ich lange gesucht, aber nicht mal mehr einen winzigen Schneefetzen vom Wochenende gefunden. Noch schneller war allerdings ein anderes Naturschauspiel verschwunden. Heute Mittag stand für Sekunden ein sehr schöner Regenbogen über der Bank unter dem Apfelbaum. Als ich mein Handy fotobereit hatte, hatte er sich schon wieder in klatschnasse Luft aufgelöst.
Zwischenbilanz
Heute beginnt meine dritte Woche hier im Steigerwald. Es ist Zeit für eine kleine Zwischenbilanz. Ich bin froh, dass es das Video gibt, das mein Gangbild bevor ich nach hier gekommen bin, zeigt. So vergisst man nicht den Ausgangspunkt dieses Abenteuers in einer Klinik mit einem „anderen Ansatz“. Mir ging es mehrere Wochen bervor ich hier ankam, so Schei…, dass ich bereits den „einfachen“ Stopp des rapiden Verfalls und meiner Schmerzen als einen Fortschritt gesehen hätte. Natürlich habe ich aber auf mehr gehofft. Dass mir meine Krankenkasse, unter Berufung einer Fachkraft des Medizinischen Dienstes, die mich nie gesehen hat, bescheinigte, es sei keine zunehmende Verschlechterung eingetreten und es gebe keine „Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit“ (Wer erfindet eigentlich solche Wortungetüme mit 35 Buchstaben?), habe ich als einen üblen Schlag in die Magengrube empfunden. Der wirkt bis heute nach und gehört deshalb auch zur Bilanz.
Ob der Verfallsprozess bereits aufgehalten ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Vor allem nicht, ob das schon unumkehrbar ist. Fakt ist, ich fühle mich besser. Ich habe noch Schmerzen, vor allem nachts. Manchmal sind sie sogar noch sehr heftig. Insgesamt habe ich jedoch die Einnahme des Schmerzmittels (Pregabalin, kommt eigentlich aus der Epilepsiebehandlung), auf ein Drittel der Anfangsdosis reduziert.
In der ersten Woche gab es eigentlich einen ständigen leichten „Aufwärtstrend“. Die zweite Woche hatte eher etwas von einer Achterbahnfahrt. Vor allem direkt nach den Körpertherapien (Tuina und Psychotonik) fühlte ich mich richtig gut. Das war jedoch nie von Dauer. Es war, als würde mein Körper die Veränderungen nicht akzeptieren, als würde er sich nachts wieder in seine gewohnten Fehl- und Schonhaltungen zurückziehen. Und damit waren auch bekannte Schmerzen wieder da.
Ich bedaure ein wenig, dass ich kein Video habe, dass zeigt, wie ich vor dem Gang in die Klinik an meinen Krücken gegangen bin. Ständig Angestrengt, staksig, vornüber geneigt, zunehmend unsicher. Es war ein Gefühl, als müsste ich eine Kartoffelpflug ziehen, mit dem früher auf dem Land die Kartoffeln in Reihen angehäufelt wurden.
Hier ist manchmal bereits eine klare Veränderung eingetreten. Ich stehe und gehe aufrechter. Jedenfalls meistens. Der Gang ist flüssiger und “runder”, auch etwas schneller. Jedenfalls manchmal. Das ist überhaupt noch nicht stabil und die Bewegungen schmerzen immer mal wieder, aber da ist dieses Gefühl, es geht noch was. Es gibt nicht den einen großen “Ruck”, mit dem alles gut wird, aber ich kriege millimeterweise eine Idee davon, was „noch drin sein könnte“. Ich muss halt gut und geduldig sein.
Dienstag, 22. November 2022
Arzttermine finden hier täglich statt, einmal wöchentlich ist “Visite”, das heißt, es sind der Oberarzt, die/der behandelnde Mediziner(in) und mehrere Kolleg(inn)en anwesend. Allerdings erfolgt die Visite hier anders herum, als in üblichen Kliniken. Die Patienten kommen zu den Ärzten, nicht umgekehrt. Alles findet sehr entspannt statt. Oberarzt befragt Patient, Patient beschreibt seine Situation. Am Ende fasst der Oberarzt zusammen, er sei mit meiner Entwicklung „so mittel zufrieden.“ Da fühle ich mich in meiner Zwischenbilanz bestätigt. Anschließend diskutieren die Doktores vermutlich meinen Fall, bevor der/die nächste Patient(in) hereingerufen wird. Das Ergebnis werde ich sicher in den nächsten Tagen bemerken.
Mittwoch, 23. November 2022
Let’s talk about Dekokt (Teil 2)
Die Hexenküche, gemeint ist die Apotheke, ist ein öffentlich einsehbarer Raum hinter einer Glasscheibe. Dort werden die verschiedenen Substanzen abgewogen und gemischt. (Offizielles Pressefoto der Klinik)
Die eigentliche Medizin in der TCM-Klinik sind die sogenannten Dekokte, in denen, kräuterteeähnlich, die einzelnen Substanzen der Medikamente zusammengestellt sind. Nachdem ich hier ankam, bekam ich zunächst eine Art Standard-Mischung für PNP-Patienten, die seitdem immer wieder, entsprechend meinem Behandlungsverlauf angepasst wurde.
So sehen Ursprungssubstanzen für die Medizinmischungen aus.
Im Patientenkühlschrank auf der Station im Wohnblock landen dann Glasflaschen mit der vorgekochten Grundsubstanz für vier Dekokte. Ich bekomme zur Zeit unterschiedliche Dekokte für vormittags und nachmittags.
Von meinem Nachmittagsdekokt muss ich in der „Stationsküche“ aktuell 100 ml abmessen, in eine Thermosflasche geben und dann mit kochendem Wasser aufgießen. Dekokt bereiten funktioniert also ähnlich wie Teekochen.
An jeder Flasche befindet sich übrigens noch Zettel mit den Angaben der Substanzen, die für den Dekokt verwendet wurden.
Freitag, 25. November 2022
Let’s talk about Dekokt (Teil 3)
Ein wesentlicher Sinn der Dekokte besteht darin, sehr vereinfacht gesagt, Dinge „in Bewegung zu bringen“, im Körper eingelagerte “Abfallsubstanzen” auszuleiten. Zur Zeit nehme ich einen Nachmittags-Dekokt, der „in die Tiefe“ wirken soll. Dabei ergibt sich manches völlig unerwartete Déja vu.
Zum Beispiel dieses: Ich habe mir in “grauer Vorzeit” einmal die sogenannte Schipperkrankheit zugezogen. Heute fast vergessen, kannte man die Krankheit früher, weil es viele Menschen gab, die körperliche Arbeiten mit Schaufeln (Schippen beim Haus- und Straßenbau, als Heizer u.ä.) verrichten mussten. Die Krankheit ist extrem schmerzhaft und entsteht bei körperlicher Überlastung durch den Abriss (Bruch) von Dornfortsätzen im Bereich von Hals- und Brustwirbelsäule (siehe z.B. hier –>)
Beim Kellerausbau im Haus meiner Eltern war sehr viel Erde angefallen. Da mein Vater als Berufskraftfahrer tagelang unterwegs war, kam er auf die Idee, sein damals 15-jähriger Sohn, körperlich groß und sportlich, könnte mit einer Plattschaufel einen LKW-Anhänger mit dieser Erde beladen. Das hat auch geklappt, mit besagten Folgen.
Über fünfzig Jahre hatte ich nicht mehr an diese Episode gedacht, bis völlig überraschend genau diese sehr starken Schmerzen vor wenigen Tagen hier wieder auftraten. Ich habe sie sofort wieder erkannt. Sie blieben etwa für fünf Tage, wurden von einer Körpertherapeutin behandelt und sind inzwischen fast verschwunden.
Sie wurden abgelöst von genau jenen starken Schmerzen, die ich als 22 bis 23-jähriger hatte, als ich meinen Morbus Bechterew bekam und die Wirbelsäule versteifte. Diese Dinge finden jedoch nicht nur auf der körperlichen Ebene statt. Ebenso normal ist es, dass mit einem Mal längst vergessen geglaubte Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle wieder auftauchen.
Samstag, 26. November 2022
Gestern war Wiegen angesagt. Ich habe hier kein bisschen weniger gegessen als daheim. Trotzdem fühlte es sich so an, als könnte … und tatsächlich, die Waage zeigte drei Kilo weniger an als vor zweieinhalb Wochen. Das ist sicher auf die vegetarische Ernährung zurückzuführen, wohl aber auch auf die unglaublich guten Salate, die es hier in absoluter Restaurant-Qualität und besser gibt.
Sonntag, 27. November 2022
Ein paar Gedanken zur Polyneuropathie
Schwergradige Polyneuropathie lautet meine Diagnose, und die muss ich wohl ernst nehmen. Ich bin hier der einzige PNP-Patient mit unübersehbarer Behinderung, Gehstützen und deutlicher “Schwankungsbreite”. Im Essensraum habe ich deshalb das Privileg, am Tisch für Patienten mit Rollstuhl und Rollator (solche gab es während meiner Zeit hier bisher nicht) sitzen zu dürfen – und bedient zu werden. Ich würde es wirklich nicht schaffen, Kaffee, Suppe oder Sonstiges unfallfrei an meinen Tisch zu holen.
Die anderen PNP-Patient(inn)en kenne ich, aber wenn sie mir auf der Straße begegneten, könnte ich in den meisten Fällen überhaupt nicht erkennen, dass sie erkrankt sind. Das klingt, als wären ihre Erkrankungen leichter, leicht sind sie deshalb aber überhaupt nicht. Mein früherer schweizerischer Zimmernachbar bewegte sich absolut “normal” und erzählte mir, er mache sogar immer mal wieder mehrstündige Wanderungen. Seine PNP zeige sich in Schmerzen an den Füßen und in dem Gefühl vonstarkem Brennen von den Beinen zu den Schultern hinauf und bis in den Intimbereich.
Mein jetziger Zimmernachbar, ein Niederbayer, ehemaliger Ausbilder bei der Polizei und Skilehrer, leidet unter erheblichen Schmerzen in den Füßen und Gefühlsverlust in den Zehen und anderen Teilen des Fußes. Auch ihm sieht man diese Probleme nicht an. Für ihn als Skilehrer kann der Gefühlsverlust in den Zehen jedoch schnell sehr bedrohlich werden, weil er Erfrierungen auf der Piste kaum bemerken würde. Selber hatte ich dieses Problem bereits anders herum, als ich mir vor drei Jahren mit einer Wärmflasche an den Füßen unbemerkt Verbrennungen zugefügt habe, die mich ins Krankenhaus brachten.
Immer wieder fällt mir auf, ausgesprochene Couch-Potatoes sind hier die absolute Ausnahme. Viele der PNP-Patient(inn)en, die mir begegnen, wirken sehr sportlich. Etwa der freundliche Grauhaarige, der mir beim Frühstück von seinen Gefühlsausfällen an Füßen und Unterschenkeln erzählt und, wenn er mit Spannkraft aufsteht, in seiner orangen Trainingsjacke mit den drei Streifen wirkt, als könne er sofort ein Ü‑60-Tennis-Team aufs Feld führen.
Beeindruckend auch die gertenschlanke Mittfünfzigerin, die, offensichtlich balletterfahren, mit einem Fuß auf einer Gymnastik-Halbkugel steht und fast unbemerkt am Rande der einfachen Übungen in der PNP-Gruppe eine Arabesque zeigt, bei der sie hinter dem Kopf ihr nach hinten ausgestrecktes Bein festhält. Wow! Und diese Frau hatte zuvor in der Gruppe von Schmerzen berichtet, und dass sie ihre Fußsohlen teilweise nicht mehr spürt.
Auch diese Kontaktverluste mit dem Untergrund haben viele unterschiedliche Gesichter. In meinem Fall fühlt es sich an, als stünde ich unsicher auf „schwabbeligen“ Gelkissen. Andere berichten von einem Gefühl, als gingen sie auf Styroporplatten. Das Gefühl, „völlig losgelöst“ zu sein, ist vermutlich nur angenehm in der Schwerelosigkeit. Auf dem Boden führt es zu Schwanken und Schwindel, erst recht bei Dunkelheit oder wenn man die Augen schließt.
Diese Liste ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Alle zuvor Genannten sind hier als Patient(inn)en mit Polyneuropathie ohne Ursache, enttäuscht von einer Schulmedizin, die Patienten wie uns für nicht behandelbar erklärt.
Eine Arabesque hätte ich nie geschafft. Allerdings konnte ich mal ganz passabel mit dem Fußball jonglieren. Solche Spielereien hätte ich nur zu gerne auch mit meinen Enkelkindern gemacht, so wie ich diese Dinge mal an meine Söhne weitergegeben habe. Daraus wird sicher nichts mehr werden. Das tut schon ein wenig weh.
Was mich von meinen Mitpatient(inn)en unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihre PNP zum Teil schon vor vielen Jahren von Neurologen diagnostiziert wurde. Sie haben hier die Chance, möglichst früh weitere Verschlimmerungen zu verhindern, sich manche Fähigkeiten sogar nach und nach zurückzuholen. Das ist gut so. — Bei mir geht sicher auch noch etwas. Vermutlich nicht soviel, wie bei anderen. Wieviel, das werden wir sehen.