Dass Menschen jahrzehntelang »vergessen« wurden, ist ein Vorgang, der Menschen, die sich mit der Geschichte von Opfern des Nazi-Regimes beschäftigen, immer wieder begegnen kann. 77 Jahre war das Grab Henny Ploegers »unsichtbar«. Im Januar 1946 war sie gemeinsam mit Ihrem ermordeten Ehemann Heiko auf dem Friedhof »Ewiger Frieden« beigesetzt worden. Seit dem 7. Juni dieses Jahres macht auch auf ihrem Grab ein Gedenkstein auf diese mutige Frau und ihre Geschichte aufmerksam. Im Rahmen eines Geschichts-Projektes hatten Schülerinnen und Schüler der Herforder Gesamtschule einen Entwurf für diesen Grabstein erstellt, der nun mit Mitteln der Sparkassenstiftung verwirklicht wurde.
Anlässlich der Übergabe des Steins an die Öffentlichkeit wurde auch ich um ein Grußwort gebeten. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte, wurde mein Beitrag von meinem Sohn Christoph Begemann vorgetragen.
77 Jahre unsichtbar
(Mein Grußwort zur Gedenkveranstaltung am 7. Juni 2023)
Als am 12. Januar 1946 Heiko Ploeger hier beigesetzt wurde, geschah eigentlich etwas Ungeheuerliches. Der Leichnam eines Menschen, der Widerstand geleistet hatte und deshalb von einem verbrecherischen Regime, nach verbrecherischen Gesetzen zum Tode verurteilt worden war, kehrte zurück in die Stadt, in der er gelebt hatte.
Einen „gefährlichen Hetzer und Kriegsverbrecher“ hatten ihn die Richter „im Namen des Deutschen Volkes“ in ihrem Urteil genannt. Nun waren mehrere hundert Menschen zu seiner Beisetzung gekommen, um ihn zu ehren. Frierend und überrascht standen sie vor zwei Särgen, die auf der Freifläche am Eingang des Friedhofes aufgebahrt waren. Dort stand nicht nur der Sarg, in dem Heiko Ploeger nach seiner Hinrichtung im September 1944 zunächst in Dortmund begraben worden war.
Wilhelm Osterhagen, der Nachbar der Ploegers in der Herforder Johannisstraße, hatte entscheidenden Anteil daran, dass Ploeger – pathetisch ausgedrückt – wieder zurückkam. Osterhagen war aber auch dafür verantwortlich, dass neben dem Sarg Heiko Ploegers nun der Sarg seiner Ehefrau Henny stand. Sie war ein halbes Jahr nach ihrem Mann gestorben. Zerbrochen an dem Unrecht, das an ihm begangen worden war. Auch sie war zunächst an anderer Stelle beigesetzt worden.
Die Beerdigung, die damals hier stattfand, war ganz sicher ein politisches Zeichen und sollte es auch sein. Sie war aber auch eine ganz besondere menschliche Geste. Sie brachte zwei Menschen »im Tod« wieder zueinander, die gewaltsam getrennt und getötet worden waren.
Wenn wir heute über die Geschichte des Widerstands gegen das Nazi-Regime reden, dann sind die Sympathien und das Gefühl für Richtig und Falsch eindeutig verteilt. Kaum jemand würde es wagen, öffentlich schlecht über ein Nazi-Opfer zu sprechen. Das war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht so.
Für die unbelehrbaren Anhänger Hitlers, für die sogenannten Alten Kameraden, für die unverbesserlichen Mitläufer von einst und für viel zu viele mehr war es überhaupt nicht einzusehen, dass jemand wie Heiko Ploeger zu Unrecht verurteilt worden sein sollte. Der Satz: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“, war für diese Kräfte Gesetz. Bis zum Jahr 1978 war es für einen führenden deutschen Politiker folgenlos, wenn er mit diesem Satz seine eigene Mitwirkung an vier Todesurteilen rechtfertigte. So lange hat es gedauert, bis eine demokratische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik so stark war, dass Hans Filbinger, so hieß der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, zum Rücktritt gezwungen war.
Diese Geschichte muss man kennen und berücksichtigen, wenn man verstehen will, wie mit dem Gedenken an den Widerstand in den Jahren nach 1945 umgegangen wurde. Es war kein Zufall, dass der Grabstein, der im Jahr 1947 für Heiko Ploeger hier aufgestellt wurde, eine besondere Form und Größe hatte. Unübersehbar sollte er sein, dabei Stärke und Selbstbewusstsein demonstrieren.
Dieser Kampf um das Gedenken hatte jedoch längst auch die Gedenkenden selbst erreicht. Antikommunismus und der beginnende Kalte Krieg sorgten dafür, dass nach 1948 keine gemeinsamen Gedenkfeiern von Gewerkschaften, Sozialdemokraten, KPD-Mitgliedern und Stadt Herford mehr stattfanden.
Natürlich ist es richtig zu sagen, dass Henny Ploeger und ihr Anteil am Widerstand bis heute nicht zu sehen waren. Aber das war keine Entwicklung, die sich gegen diese mutige Frau richtete. Es sollte auch nicht sie persönlich vergessen machen. Die Zusammenhänge waren komplizierter. Ausgerechnet in einem Augenblick, in dem es endlich möglich gewesen wäre, ihre Geschichte und ihren Anteil als Frau am Widerstand zu entdecken, geriet das das gesamte Gedenken in Misskredit. Vielfach wurde es sogar ganz aufgegeben.
Es ist heute kaum nachvollziehbar, aber wahr: Nachdem die Bundesregierung 1951 die „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes“ und ihr nahestehende Organisationen verboten hatte, wurde zum Beispiel in Bielefeld die Friedhofsverwaltung von der Polizei aufgefordert, zu beobachten, ob und gegebenenfalls wer sich dort zum Gedenken trifft. Ob es Vergleichbares auch in Herford gab, ist nicht bisher bekannt.
Faktisch bedeuteten diese Umstände jedoch, wer sich jetzt noch an den Gräbern traf, galt nun als politisch verdächtig. Jahrzehntelang hätte kein Landrat, kein Bürgermeister und auch kein sonstiger Repräsentant an solchen Veranstaltungen mehr teilgenommen.
Es war im Herford der 1970er/80er Jahre meist ein kleiner Kreis überwiegend junger Menschen, die jeweils am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht, mit Kerzen in der Hand durch die Herforder Innenstadt zogen, um am Denkmal am Pöppelmann-Haus einen Kranz niederzulegen. Ich gebe es zu, ich war dabei. Und ich werde ganz sicher nicht die Gesichter der damals stadtbekannten Alt-Nazis vergessen, die uns dabei mit drohend erhobenen Fäusten zugerufen haben: „Haut ab, nach drüben!“ Und die ehrbaren Herforderinnen und Herforder standen schweigend daneben.
Fast vierzig Jahre fand hier auf dem Friedhof kein Gedenken mehr statt. Jahrzehnte, in denen die Geschichte Heiko und Henny Ploegers vergessen wurde, besser: vergessen gemacht wurde. In dieser Zeit sind viele Erinnerungen verloren gegangen.
Es war ein kleiner Arbeitskreis, der sich in den 1980er Jahren mit der Geschichte der Herforder Arbeiterbewegung beschäftigte. Aus diesem Umfeld ist die Suche nach der Geschichte Heiko Ploegers entstanden. 1988 erschien ein Buch mit seiner Biographie. Es ging darum, die wenigen Dinge zu sichern, die damals noch zu finden waren.
Etwa ab 2013 habe ich regelmäßig bei den Gedenkveranstaltungen für Heiko Ploeger darauf hingewiesen, dass wir uns hier nicht an einem, sondern an den Gräbern zweier Menschen treffen. Es war vermutlich nötig, dass ich bei der Gedenkveranstaltung 2020 die Geschichte Henny Ploegers erstmals besonders dargestellt habe, versehen mit dem dringenden Wunsch, eine Form zu finden, auf ihrem Grab an diese vergessene, mutige Frau zu erinnern.
Es ist gut, dass wir heute das Ergebnis dieses Prozesses sehen können. Und es ist gut, dass junge Menschen entscheidend ihren Teil dazu getan haben. Hier kommt etwas zum Abschluss, aber nach meinem Verständnis sollte damit gleichzeitig ein neuer Aufbruch verbunden sein. Ein Aufbruch, um endlich auch die seit Jahrzehnten verdrängte Geschichte des Gedenkens aus dem Vergessen zu holen. Eine unsägliche Geschichte, beschämend für ein Land, das für sich in Anspruch nahm, das bessere Deutschland zu sein. Ich finde, auch das sind wir Henny und Heiko Ploeger schuldig.
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