Die Verwendung des Liedes „Mein Vater wird gesucht“ erfolgt mit freundlicher Erlaubnis von Erich Schmeckenbecher und Thomas Friz von der Gruppe »Zupfgeigenhansel«. Herzlichen Dank!
Textfassung:
Das Musikstück „Mein Vater wird gesucht“ gehört zu den bekanntesten und bewegendsten Liedern des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur. Man könnte es für die Schilderung des Schicksals des Bielefelder Arbeiters Fritz Bockhorst halten, wenn es in dem Lied heißt:
Fritz Bockhorst war der Großonkel der Brüder Erhard und Jürgen Krull. Erhard Krull ist vielen Menschen in Herford bekannt. Seit Jahren engagiert er sich mit zahlreichen Aktionen für soziale Projekte, sammelt dafür auch Spenden oder lässt Stromkästen in der Innenstadt verschönern.
In der Familie der Krulls war es wie in dem zitierten Lied. Man erzählte sich von der Verfolgung des Großonkels, man wusste, dass er die Gestapohaft in Bielefeld nicht überlebt hatte. Aber niemand akzeptierte die Legende vom Freitod des Fritz Bockhorst. Keiner wollte glauben, dass er sich am 30. Juni 1944 im Gefängnis erhängt haben sollte.
Dabei entwickelte sich die Legende längst zur eigenen Geschichte. Was die beiden Gestapo-Beamten Karl Kaufmann und Otto Rethmeier am Tag nach Bockhorsts Tod seiner Witwe mitteilten, wurde zur Geschichte, die sich Nachbarn und Bekannte erzählten. Vereinzelt erschien sie auch in amtlichen Akten.
Als im Jahr 2005 mit der Verlegung der sogenannten Stolpersteine für die Bielefelder Opfer des Naziregimes begonnen wurde, meldete sich ein Zeitzeuge zu Wort. Sechzig Jahre zuvor, im Jahr 1944 war dieser noch ein Kind. Aufgrund der Erzählungen seiner Eltern und Nachbarn war er in dem Glauben aufgewachsen, Fritz Bockhorst wäre zum Tode verurteilt gewesen und hätte sich deshalb, so sagte er, „kurz vor seiner Hinrichtung selbst das Leben genommen.“
Kein Zweifel, dieser Hinweis geschah in gutem Glauben. Er führte dazu, dass das Sterben des Fritz Bockhorst in der Gestapo-Haft auf seinem Stolperstein mit den Worten „Flucht in den Tod“ beschrieben wurde, also mit der sprachlichen Umschreibung für eine Selbsttötung. So war mit bester Absicht die Gestapo-Legende zur anerkannten Wahrheit über die Geschichte eines Menschen geworden war.
Erhard Krull ist mein Freund. Er wusste von meinen Nachforschungen zur Lebensgeschichte des Herforder Nazi-Opfers Heiko Ploeger. Deshalb bat er mich, in den verschiedenen Archiven auch auf den Fall seines Großonkels zu achten. Dabei wurde ich relativ rasch fündig. Ploeger und Bockhorst waren zur gleichen Zeit in Bielefeld inhaftiert. Es ist davon auszugehen, dass sie sich dort begegneten, zumindest voneinander hörten.
Fritz Bockhorst war verheiratet und hatte zwei Kinder. Der 43-jährige war ein einfacher Lagerarbeiter, körperlich eher klein und drahtig. Handwerklich war er sehr geschickt. Er hatte nur die Volksschule besuchen können, aber verfügte über Lebensklugheit und geistige Beweglichkeit. In elf Jahren Nazi-Diktatur hatte er gelernt, mit der Verfolgung umzugehen.
Sechs Jahre in fünf Zuchthäusern und einem KZ inhaftiert
Als KPD-Mitglied hatte er mehr als sechs Jahre in den Zuchthäusern Herford, Hamm, Bielefeld, Münster und Hamburg-Fuhlsbüttel verbringen müssen. Dabei war er in Gestapo-Verhören krankenhausreif geprügelt worden und hatte als sogenannter Moorsoldat in einem Emslandlager mehrere Monate in einer Strafkompanie verbracht, einige Wochen davon sogar in Einzelhaft.
Der größte Teil seiner Gestapoakten wurde vernichtet. Durch einen glücklichen Zufall sind jedoch wenige Fragmente seiner Vernehmungen überliefert. Es handelt sich um die Durchschriften zweier Vernehmungsprotokolle mit Bockhorsts Unterschrift und denen seiner beiden Gestapo-Vernehmer.
Die Protokolle zeigen, dass er auch nach seiner Verhaftung im 9. Mai 1944 versuchte, es seinen Verfolgern schwer zu machen. Er war ihnen durchaus gewachsen und versuchte, sie mit kleinen Alibi-Geschichten zu täuschen und auf falsche Fährten zu locken. Vor allem ging es ihm wohl darum, seine Familie zu schützen und Kameraden nicht zu belasten. Wie Heiko Ploeger wurden auch ihm „Rundfunkverbrechen“, also das Abhören sogenannter Feindsender vorgeworfen.
Freitod ist die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten
Es fällt schwer, das zu akzeptieren, aber nach mehr als 75 Jahren scheint es nicht mehr möglich, die genaue Todesursache von Fritz Bockhorst nachzuweisen. Eines ist jedoch sicher: Die Gestapo-Legende von seinem Freitod aus Angst vor der Hinrichtung ist die unwahrscheinlichste und auch unglaubwürdigste aller Möglichkeiten. Natürlich musste Fritz Bockhorst um sein Leben fürchten, aber als er ums Leben kam, war noch nicht einmal Anklage gegen ihn erhoben.
Allerdings war eine neue Situation eingetreten, die allen Gegnern und Verfolgten des Regimes entscheidend neue Hoffnung gab. Am 6. Juni 1944 waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Der nun einsetzende Rückzug der deutschen Armeen auch an der Westfront ließ für die Verfolgten den Traum von einem baldigen Kriegsende und damit auch von ihrer Befreiung realistisch erscheinen.
Auf der anderen Seite verschärfte sich nun jedoch noch einmal die Brutalität, mit der die Gestapo gegen die Häftlinge vorging. Nur fünf Tage vor Fritz Bockhorst starb in der Gestapohaft bereits der Dürkopp-Arbeiter Karl Twesmann aus ungeklärten Gründen. Auch seine Vernehmer waren Kaufmann und Rethmeyer. Auch bei ihm lautete der Vorwurf „Rundfunkverbrechen“. Wie Zeugen nach dem Krieg bestätigten, war auch er während der tagelangen Verhöre „fürchterlich geschlagen“ worden.
Fritz Bockhorst wurde auf dem Bielefelder Sennefriedhof beerdigt. Als seine Witwe mit ihren Kindern die Trauerhalle betrat, sah sie den Leichnam ihres Mannes aufgebahrt im offenen Sarg. Auch Gestapo-Beamte waren anwesend.
Kaufmann und Rethmeyer hatten behauptet, Bockhorst habe sich an seinen Hosenträgern erhängt. Frieda Bockhorst erschien das von Anfang an als völlig unglaubwürdig. Sie hatte noch am Tag vor seinem Tod kurz mit ihrem Mann im Bielefelder Gestapogebäude sprechen können. Über dieses Gespräch berichtete sie später: „Mein Mann erklärte mir, ich solle den Kopf hoch halten, für uns schiene auch mal wieder die Sonne.“Deshalb suchte seine Frau nun mit ihren Blicken den Hals ihres Mannes nach Spuren ab, als sie an seinem Sarg stand. Drei Jahre später gab sie gegenüber einem Untersuchungsrichter zu Protokoll, sie habe keine Hinweise auf Strangulation erkennen können. Jedoch habe sie Blutverkrustungen an seinen Zähnen gesehen.
„ … eine Wunde, die wie ein Loch aussah“
Und dann tat Frieda Bockhorst in der Trauerhalle etwas, womit die Gestapobeamten offensichtlich nicht gerechnet hatten. Bevor diese reagieren und eingreifen konnten, trat sie vor und löste blitzschnell ein Pflaster, das ihrem Mann auf die Stirn geklebt worden war. Was sie dort entdeckte, beschrieb sie in einer Zeugenaussage von 1947 mit den Worten: „… über dem linken Auge hatte er eine Wunde, die wie ein Loch aussah“. Und weiter: „Die Wunde befand sich direkt über der linken Augenbraue. Über dem linken Auge saß eine sogenannte Borke.“
In der NS-Zeit blieben Frieda Bockhorsts Entdeckungen folgenlos. Natürlich, möchte man hinzufügen. Als sie ihre Aussagen im Jahr 1947 zu Protokoll gab, sammelte ein Untersuchungsrichter belastendes Material über die Gestapobeamten Karl Kaufmann und Otto Rethmeyer. Wohl auch deshalb unterzeichnete Frieda Bockhorst abschließend eine Erklärung, in der es hieß: „Ich bin damit einverstanden, falls seitens der zuständigen Staatsanwaltschaft gegen Kaufmann und Rethmeyer ein Verfahren wegen Mordes oder Totschlages eingeleitet wird, dass mein Mann exhumiert wird.“
Zu dieser Exhumierung kam es jedoch nicht. Es gab zwar weitere Zeugen, die von Gewalttätigkeiten und Drohungen der beiden Gestapo-Beamten berichteten. Es fand sich jedoch niemand, der Angaben über den Tod von Fritz Bockhorst machen konnte. Auch kein weiterer Zeuge, der seine Leiche gesehen hatte.
Für die Angehörigen der Opfer endete das Unrecht 1945 nicht. Es bekam ein anderes Gesicht.
Sein Tod gehört deshalb zu der ungeheuren Vielzahl von Fällen aus der NS-Zeit, bei denen ein Verbrechen vermutet, aber nicht bewiesen werden kann. Jahrzehntelang blieben die Familienangehörigen allein gelassen mit dieser Ungewissheit und mit den Lügen und Legenden, die von den Tätern über ihre Opfer in die Welt gesetzt wurden. Das NS-Unrecht endete für die Angehörigen also nicht mit der »Stunde Null« im Jahre 1945. Es bekam ein anderes Gesicht.
Dazu gehört, dass die Täter von damals noch viel zu oft die Deutungshoheit über die Geschichte ihrer Opfer behalten haben. Dazu gehört auch, wie diese erinnert und wie ihrer gedacht wird. Viel zu oft, bis heute.
Es war also höchste Zeit, die Gestapo-Legende von Fritz Bockhorsts Freitod endlich beiseite zu legen und wahrheitsgemäß zu erklären, die Umstände seines Todes wurden „nie geklärt“. Ein neuer Stolperstein mit dieser Inschrift wurde im April 2019 an Bockhorsts letztem Wohnort Bielefeld, in der Karolinenstraße 19, offiziell vorgestellt.
Notwendige Nachbemerkung:
Der Bielefelder Dürkopp-Arbeiter Karl Twesmann starb fünf Tage vor Fritz Bockhorst, am 25. Juni 1944, ebenfalls in der Gestapohaft. Wie zuvor erwähnt, wird auch auf seinem Gedenk-Stolperstein in der Oelmühlenstraße 15 von einer „Flucht in den Tod“ gesprochen. Auch bei ihm gibt es jedoch nicht den geringsten Hinweis auf einen Freitod. Fest steht bisher nur, die Umstände seines Todes sind sehr fragwürdig und wurden nie geklärt. Deshalb wäre es angemessen, wenn auch sein Gedenkstein korrigiert und ausgewechselt würde.
Allerdings ist bisher nur wenig über Karl Twesmann und seine Lebensgeschichte bekannt. Bisher gibt es nicht einmal ein Foto von ihm. Für mögliche Hinweise wäre ich sehr dankbar. Sie erreichen mich mit einer mail an:
oder telefonisch unter 05221 – 275 39 07
Herzlichen Dank für Ihre Mühe im Voraus.
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