Damit hatten vermutlich nicht viele gerechnet, dass die Geschichte eines hundert Jahre alten Fotos so spannend sein könnte. Bei einer Online-Veranstaltung der Volkshochschule Herford hatte ich am 20. April 2021 eine Panorama-Ansicht der Stadt Herford vorgestellt, die der 17-jährige Fotografen-Lehrling Wilhelm Arnold im August 1922 vom Turm der Stiftberger Kirche aufgenommen hatte. Viele Fragen wurden an diesem Abend gestellt, eine musste jedoch unbeantwortet bleiben: “Was ist das für ein großes dunkles Gebäude hinter dem katholischen Krankenhaus?”, wollte eine Teilnehmerin (Frau Huss) wissen. Es hat ein wenig gedauert, aber inzwischen habe ich eine Antwort gefunden. Auch diese Spurensuche ist spannend. Und sie hilft nachträglich sogar, auch das Arnold-Panorama ein wenig besser zu verstehen.
Um die Lösung zu finden, hilft kein schneller Blick auf alte Stadtpläne, oder in entsprechende Adressbücher. Es gab und gibt keine Straßen und Wege in direkter Nähe des Krankenhauses, an denen sich eine Fabrik befand. Aber auf dem Foto ist ganz deutlich ein größeres Gebäude abgebildet. Wie ist das also möglich? – Würde es vielleicht helfen, bei der Suche an eines der bekannten größeren Herforder Unternehmen zu denken? Leider Nein, denn keiner der namhafteren Traditionsbetriebe war im näheren Umkreis ansässig.
Um der Lösung näher zu kommen, ist es sinnvoll, sich zunächst an den bekannten Straßen und Orten auf dem Foto zu orientieren. Zu diesem Zweck habe ich im nächsten Foto die wichtigsten Straßennamen an den passenden Stellen in das Arnold-Foto eingetragen.
Dabei wird schnell klar, die Aufnahme Arnolds gibt zwar bemerkenswert viele und überraschende Details zu erkennen. Sie zeigt diese jedoch mit einer gewissen optischen Verzerrung. Das Foto wirkt, als hätte es keine wirkliche Tiefe – als wäre es von hinten nach vorne »zusammen gezogen«.
Dadurch sieht es so aus, als wäre das Weddigenufer am unteren Bildrand nur wenige Schritte von der Wiesestraße entfernt. Auch der Abstand von der Wiesestraße zu den Häusern an der Ecke Rennstraße/Elverdisser Straße scheint nur wenige Meter zu betragen. Dieser optische Eindruck setzt sich im gesamten Foto fort.
Den Grund für diese irritierende optische Wirkung liefern Arnolds damalige Fotoausrüstung und Aufnahmetechnik. Er war kein Landschafts‑, sondern ein Portrait-Fotograf. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Aufnahmen von Personen. In seinem Atelier an der Brüderstraße wurden vor allem Passbilder sowie Hochzeits- und Familienfotos hergestellt. Um die Gesichter von Menschen besonders »natürlich« wirken zu lassen, werden diese mit ein wenig Abstand und einem leichten Teleobjektiv fotografiert. Entsprechend war Arnolds Kamera ausgerüstet. Was für die Herstellung guter Portraitfotos das optimale »Werkzeug« war, erwies sich für die Aufnahme von Landschaften und Architektur jedoch nur bedingt als sinnvoll, weil es zu den beschriebenen Verzerrungen in der Bildwiedergabe führte.
Ein glücklicher Zufall macht es möglich, zu zeigen, wie sehr die Aufnahmetechnik die Wiedergabe veränderte und beeinflusste. Es gibt eine Luftaufnahme Herfords vom Anfang der 1920er Jahre. Sie entstand also etwa zur gleichen Zeit, wie Arnolds Panorama von der Stiftberger Kirche. Vermutlich wurde sie aus einem Luftschiff fotografiert, einem sogenannten Zeppelin, als dieser die Stadt überflog.
Auf dem unten wiedergegebenen Ausschnitt dieses Luftbildes habe ich erneut die Straßennamen eingetragen. Es überrascht nicht, dass sich die Straßenbreiten und auch die Bebauung in den letzten hundert Jahren erheblich verändert haben. Jedoch sind die Straßenverläufe weitgehend gleich geblieben. Deshalb sind auch auf heutigen Stadtplänen die Örtlichkeiten ohne große Mühe wieder zu finden.
Mit Hilfe dieser Luftaufnahme ist auch das Rätsel um „das große Gebäude hinter dem katholischen Krankenhaus“ rasch zu lösen. Es handelte sich um die »Mechanische Papierwaren-Fabrik« des Fabrikanten Johann-Heinrich Wessel, die sich in der Hermannstraße 6 befand – etwa 250 Meter (Luftlinie) vom Krankenhaus entfernt. In Adressbüchern ist das Unternehmen dort vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre verzeichnet. Neben der Produktion von Büchern und Prospekten scheint es auf die Herstellung besonderer Druckerzeugnisse für die Industrie (Eiketten, Anhänger, Karten) spezialisiert gewesen zu sein. Weitere Fotos der Fabrik oder Informationen zur Unternehmensgeschichte sind mir bisher nicht bekannt. Möglicherweise können Sie an dieser Stelle helfen? – Bei der Internetrecherche stieß ich auf ein ebay-Angebot für einen Original-Brief der Firma Wessel aus dem Jahr 1911. Aus Gründen der Vollständigkeit und Information gebe ich ihn an dieser Stelle wieder.
Kurzer Nachtrag:
Mein (früherer) Kollege Christoph Laue hat (Herzlichen Dank dafür!) in den Beständen des Kommunalarchivs Herford noch einmal nach Angaben zur Geschichte der Papierwaren-Fabrik Wessel gesucht. Seine Funde bestätigen (Glück gehabt!) meine ungefähren Angaben zum Bestand des Unternehmens vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre mit genauen Daten: Ein Standardwerk zur Herforder Wirtschaftsgeschichte nennt 1903 als das exakte Gründungsjahr.*) In der städtischen Gewerbe-Kartei ist der 25.06.1962 als Datum für die Aufgabe des Betriebes angegeben.
Vor der Gründung seiner eigenen Papierwaren-Fabrik hatte Johann-Heinrich Wessel im Herforder Unternehmen Busse & Niederstadt gearbeitet und war dann als Mitinhaber in die Firma Landwermann & Co eingetreten. Beides waren ebenfalls Papierwarenfabriken und Druckereien.*)
*) aus: Gustav Schierholz, Geschichte der Herforder Industrie, 1952.
Herr Laue macht zusätzlich aufmerksam auf eine Luftaufnahme aus den Beständen des Landesarchivs NRW (Duisburg). Das Foto entstand mit deutlich besserer Kameratechnik vermutlich in den 1930er Jahren. Leider zeigt es, nur für Eingeweihte erkennbar, lediglich am linken Bildrand eine kleine Ecke vom Giebel der Wessel’schen Fabrik. Für die Identifizierung des gesuchten Gebäudes ist es deshalb nur bedingt hilfreich.
Ich habe trotzdem einen Ausschnitt des Gebietes zwischen katholischem Krankenhaus und Hermannstraße aufbereitet. Die bessere Bildqualität gibt Gelegenheit, das enge Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten zu verdeutlichen, das nach der Bebauung der Feldmarken im Zuge von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum entstanden war. Dieses Nebeneinander blieb bis in die 1960er/70er Jahre bestehen, bis die Stadt mit der Anlage von Gewerbegebieten in den Außenbereichen begann.
Die überwiegende Mehrzahl der nachfolgend genannten Unternehmen existierte bereits, als Wilhelm Arnold 1922 sein Panorama fotografierte. Die Perspektive und das verwendete Teleobjektiv verhinderten es jedoch, die Betriebe zu erkennen:
1 — Möbelfabrik Detering, Hermannstraße 8, gewissermaßen Wand an Wand mit Wessel;
2 — ehem. Städtisches Gaswerk, Ecke Hermann- und Elverdisser Straße. Zur Zeit der Aufnahme als Lagerplatz und Werkstatt benutzt;
3 — Papierwarenfabrik Landwermann & Co, Elverdisser Straße 5;
4 — Möbelfabrik Schwettmann, Ahmser Straße 3;
5 — Schokladenfabrik Marmelstein & Haase, Ahmser Straße 5;
6 — Baugeschäft Wittland, Ahmser Straße 7;
7 — Brennerei und Destillerie Casselmann & Jursch, Ahmser Straße 7;
8 — Dachdecker-Betrieb Becker, Ahmser Straße 11.
Lieber Dieter,
dass die Arnold’sche Kamera die Perspektive derart verkürzt, habe ich mir tatsächlich nicht vorstellen können. Ich freue mich, dass Du des Rätsels Lösung mit uns teilst. Es ist so erhellend, Deine Erklärung in Wort und Bild nachzuvollziehen. Danke!
Liebe Anne,
Danke für Deine freundlichen Worte. Ich gestehe, da ist es Dir ähnlich ergangen, wie mir. Ich hatte zwar bei meinem Vortrag schon auf Arnolds Rolle als Portraitfotograf und auf die Wirkung des von ihm verwendeten Teleobjektivs hingewiesen. Dass die optischen Folgen der Technik jedoch so deutlich sind, hat mich nachträglich ebenfalls überrascht. — Insofern hat Deine Frage dazu geführt, dass ich ein wenig dazulernen durfte. Dafür danke ich auch ;-).