Für Erhard Krull †

Foto: Jür­gen Escher

Am 15. Novem­ber 2020 starb Erhard Krull. Vie­le Men­schen kann­ten ihn, beson­ders in Her­ford. Hier, aber auch dar­über hin­aus, hat er vie­le Spu­ren hin­ter­las­sen. Die Erin­ne­rung an ihn ist ver­knüpft mit einer Viel­zahl sozia­ler Pro­jek­te und der Samm­lung von Spen­den, die er ange­sto­ßen und ver­wirk­licht hat. Hin­zu kam die Ver­schö­ne­rung zahl­rei­cher Strom­käs­ten im Stadt­bild und ande­res mehr.

Erhard war mein Freund. Vie­le Din­ge haben uns ver­bun­den. Auch an mei­ner his­to­ri­schen Arbeit hat er inten­siv Anteil genom­men. Sei­ne Spu­ren fin­den sich des­halb eben­so auf die­ser Inter­net­sei­te. Sei­ne Hin­wei­se führ­ten dazu, dass ich begann, genau­er nach der außer­ge­wöhn­li­chen Geschich­te sei­nes Groß­on­kels Fritz Bock­horst zu gra­ben, der die Gesta­po­haft in Bie­le­feld nicht über­leb­te. Hin­zu kamen ver­schie­de­ne Bei­trä­ge und Gedan­ken von ihm zu mei­nen Arti­keln. Sei­nen letz­ten Kom­men­tar auf die­ser Sei­te schrieb er rund sechs Wochen vor sei­nem Tod. Er ende­te mit den Wor­ten: „Die­ter, mach wei­ter so! Das ist eine wun­der­ba­re Homepage.“

Trauerfeier am 4. Dezember 2020

Erhard kann­te den Ernst sei­ner Erkran­kung. Ein gutes Jahr vor sei­nem Tod bat er mich, bei sei­ner Bei­set­zung die Trau­er­an­spra­che zu hal­ten. Damals wirk­te der Gedan­ke, Erhard könn­te bald ster­ben, noch völ­lig unwirk­lich. Zu die­ser Zeit reis­te er noch viel und war nahe­zu rast­los unter­wegs. Die mög­li­che Erfül­lung sei­ner Bit­te schien Licht­jah­re entfernt.

Das Leben hat­te ande­re Plä­ne. Ich muss­te mein Ver­spre­chen am 4. Dezem­ber 2020, auf dem Andachts­platz im Fried­wald Kal­le­tal erfül­len. Für das Geden­ken hat­te ich das Lied „So vie­le Som­mer“ von Rein­hard Mey aus­ge­sucht. (Lei­der fand ich für die Ver­öf­fent­li­chung an die­ser Stel­le nur die Inter­net­fas­sung einer Fern­seh­auf­zei­chung mit Applaus. Ich hof­fe, die Stim­mung des Lie­des, das bei der Trau­er­fei­er natür­lich in der Ori­gi­nal­fas­sung abge­spielt wur­de, kommt trotz­dem »‘rüber« )

Die Ansprache für Erhard

(Wort­laut ohne per­sön­li­che Anmer­kun­gen an die Familie)

(…)

Lie­be Freun­din­nen und Freun­de von Erhard,

das Lied von Rein­hard Mey will bewusst an Erhards Lie­be zu den Sän­gern und Lie­der­ma­chern anknüp­fen. Zu sol­chen wie Han­nes Wader, von dem er noch vor zwei Mona­ten, in sei­nem letz­ten Leser­brief an die bei­den Her­for­der Tages­zei­tun­gen schrieb, dass er sei­ne Lie­der so sehr lie­be. Zu sol­chen wie Bob Dylan, von dem er vor ein­ein­halb Jah­ren wochen­lang sehr stolz war, noch eine Kar­te für des­sen Kon­zert in Bie­le­feld bekom­men zu haben.

Oder eben auch zu jenem Rein­hard Mey, des­sen Fra­ge, wie vie­le Som­mer noch blei­ben, fast unwei­ger­lich zu der Fra­ge führt, wie oft Erhard wohl denen, die ihm nahe waren, vor etwa vier, fünf Mona­ten noch in Gedan­ken zuge­trun­ken haben mag. In jener Zeit also, in der für ihn immer deut­li­cher wur­de, dass die­ser Som­mer wohl sein aller­letz­ter sein würde.

In einer Zeit, in der er zum Bei­spiel mit unge­heu­rer Wil­lens­kraft sogar noch zwei­mal nach Öster­reich auf­ge­bro­chen ist – in der aber bereits die Leich­tig­keit und die Kör­per­kraft fehl­ten, um in den besuch­ten Orten noch ein­mal, wie frü­her, her­um­zu­wan­dern oder auch nur ein wenig zu schlendern.

Jede Gene­ra­ti­on hat ihre eige­nen Lie­der und für die­je­ni­gen, die, wie Erhard in den 1960er/70er Jah­ren jeden noch so klei­nen Traum von Frei­heit, Frie­den, Gerech­tig­keit und Demo­kra­tie begie­rig ein­ge­so­gen haben, weil sie beim Ein­schal­ten von Fern­se­hern und Radi­os ver­zwei­fel­ten an den täg­li­chen Bil­dern und Berich­ten über Viet­nam-Krieg, Ras­sen­hass, Mor­de an poli­ti­schen Hoff­nungs­trä­gern, Kal­ten Krieg, Rüs­tungs­wett­lauf, unge­sühn­te Kriegs- und Nazi-Ver­bre­chen – für die­se Gene­ra­ti­on hat­ten und haben die Singer/Songwriter eine Bedeu­tung, die weit über die Musik hinausgeht.

Ein Bei­spiel für das, was den jun­gen Erhard Krull in die­sen Jah­ren aus­mach­te und was ihn beweg­te, zeigt eine Epi­so­de aus dem Som­mer 1976: Sei­ner­zeit mach­te der ehe­ma­li­ge Bun­des­kanz­ler Wil­ly Brandt eine mehr­tä­gi­ge Wan­de­rung durch den Teu­to­bur­ger Wald. Was heu­te allen­falls als eine poli­ti­sche Wer­be­tour beach­tet wür­de, hat­te damals noch eine ande­re Bedeutung.

Obwohl er bereits wegen der Guil­laume-Affä­re zurück­ge­tre­ten war, galt Brandt vie­len, vor allem jun­gen Men­schen, noch immer als ent­schei­den­de Sym­bol­fi­gur für Frie­den, für „mehr Demo­kra­tie“ und gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung. Es klingt des­halb nur kon­se­quent, wenn Erhard sich als dama­li­ger Gym­na­si­ast in Oer­ling­hau­sen aus der Schu­le schlich, um heim­lich an einer Ver­an­stal­tung mit Brandt teil­zu­neh­men, als die­ser durch die Stadt wanderte.

Dies ist aber nur der unbe­deu­ten­de Teil die­ser Geschich­te. Wirk­lich beson­ders wird sie, wenn man weiß, dass die Oer­ling­hau­ser Jun­ge Uni­on eine Demons­tra­ti­on gegen Brandt orga­ni­siert hat­te. Sie reih­te sich damit ein in das Stim­mungs­bild der dama­li­gen Bun­des­re­pu­blik, in dem alte und neue Nazis, CDU-Mit­glie­der und ande­re Brandt über Jahr­zehn­te  als „Vater­lands­ver­rä­ter“ ver­leum­de­ten, weil die­ser als poli­tisch Ver­folg­ter wäh­rend der NS-Zeit nach Nor­we­gen geflüch­tet war, weil er dort im Wider­stand gegen Nazi-Deutsch­land arbei­te­te und weil er nach 1945 sei­nen Tarn­na­men Wil­ly Brandt bei­be­hal­ten hatte.

Der damals 19-jäh­ri­ge Schü­ler Erhard Krull stell­te sich also demons­tra­tiv gegen sol­che schmut­zi­gen Machen­schaf­ten. Ihm war es wich­tig, auf der rich­ti­gen Sei­te dabei zu sein. Das erfor­der­te Mut, denn dafür erhielt er weni­ge Wochen vor sei­ner Abitur­prü­fung einen schrift­li­chen Tadel von sei­ner Schul­lei­tung. Ein Tadel, der eigent­lich eine Ehren­er­klä­rung war, für die ihn zuhau­se aber sehr viel Unan­ge­neh­me­res erwar­te­te, als nur Ärger in Worten.

Wer Erhard kann­te, wird von sol­cher Kon­se­quenz nicht wirk­lich über­rascht sein. Auch nicht davon, dass er selbst so gut wie nie über die­se Geschich­te gespro­chen hat.

Erhard wur­de 1956 in Hörs­te gebo­ren. Er ist in Wäh­ren­trup auf­ge­wach­sen. Das klingt nicht nur nach lip­pi­scher Pro­vinz. Im Schat­ten des Teu­to­bur­ger Wal­des ist Lip­pe länd­lich. Dies ist kei­ne Gegend für intel­lek­tu­el­le Höhen­flü­ge. Hier wur­den auch nie vie­le Wor­te gemacht und es konn­te schon mal etwas gro­ber zuge­hen, manch­mal auch bru­tal. In der Schu­le und auch in man­chem Elternhaus.

Bis in die 1970er Jah­re gab es hier an etli­chen Bau­ern­hö­fen noch groß­for­ma­ti­ge Email­le­schil­der, die mit der Auf­schrift „Drei­ge­teilt nie­mals“ auch ein Vier­tel­jahr­hun­dert nach dem ver­lo­re­nen Welt­krieg noch immer den Anspruch auf das Deutsch­land in den Gren­zen von 1937 erhoben.

Sol­che Din­ge muss­ten einen wie Erhard her­aus­for­dern. Er war von Jugend an ein zutiefst poli­ti­scher Mensch. Für ihn und sei­nen Bru­der Jür­gen war es ein Glück, dass es neben sol­chem kon­ser­va­ti­ven, manch­mal auch reak­tio­nä­ren Umfeld, auch einen sehr ver­ständ­nis- und lie­be­vol­len Groß­va­ter gab. Einen Mann, der vor 1933 als Sozi­al­de­mo­krat in Lip­pe noch gegen den Auf­stieg der Nazis gekämpft hat­te. Und außer­dem gab es in der Fami­lie noch die Geschich­te des Groß­on­kels Fritz Bock­horst, der als Nazi-Geg­ner unter unge­klär­ten Umstän­den in der Gesta­po­haft ums Leben kam.

Bei all dem ver­ach­te­te Erhard nichts mehr als poli­ti­sche Kum­pa­nei, Kun­ge­lei und Macht­spie­le. Poli­tik war für ihn Mit­tel zum Zweck und der Zweck war, dass es allen Men­schen gut gehen möge. Ein­fach zuse­hen, wenn Men­schen lit­ten, wenn Unrecht geschah, das hielt er nicht aus.

Wenn man sich mit Erhard unter­hielt und dabei auf irgend­ei­ne Not oder ein Unrecht zu spre­chen kam, dann gin­gen sofort immer alle Lam­pen an. Sol­che Gesprä­che waren nicht denk­bar, ohne dass ihm sofort eine Mög­lich­keit ein­fiel, irgend­wo noch eini­ge hun­dert Euro zu orga­ni­sie­ren, um spon­tan zu helfen.

Irgend­wen kann­te er immer, den er noch wegen Hil­fe und Unter­stüt­zung anspre­chen konn­te. Und selbst dabei schaff­te er es immer noch, zusätz­lich um ein paar Ecken mehr zu den­ken, um auch noch Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge oder jugend­li­che Straf­ge­fan­ge­ne in sei­ne Hilfs­pro­jek­te einzubinden.

Wenn er von irgend­wo­her um Hil­fe gebe­ten wur­de und es an Geld fehl­te, dann hielt er eben irgend­wo einen oder meh­re­re Vor­trä­ge über sei­ne Rei­sen oder sei­ne Pro­jek­te. Bei sol­chen Gele­gen­hei­ten stell­te er dann ein Spar­schwein auf, um für eine spe­zi­el­le medi­zi­ni­sche Behand­lung in Tan­sa­nia, für ein Wai­sen­haus in der Nähe von Kali­nin­grad, oder auch „nur“ für sei­nen Ver­ein Rad & Tat e.V. zu sammeln.

Ein Mensch, der in so vie­len Töp­fen rührt, über den wird gere­det. Und sei­en wir ehr­lich: Lei­der nicht immer nur gut. Erhard war sich des­sen bewusst. Er hat es hin­ge­nom­men, wenn ein­zel­ne Kol­le­gen oder ande­re ihn und sei­ne Akti­vi­tä­ten als etwas schräg, viel­leicht sogar als etwas spin­nert belächelten.

Wirk­lich getrof­fen hat es ihn, wenn es ein­zel­ne Miss­güns­ti­ge gab, die ihm unter­stell­ten, er wol­le sich nur wich­tig machen und sei­nen Namen in der Pres­se sehen. Sol­che Gemein­hei­ten konn­ten ihm sehr lan­ge nach­ge­hen, denn Erhard mag vie­les gewe­sen sein: Eitel war er eher zu wenig und ein Selbst­dar­stel­ler war er ganz sicher nie!

Für Erhard gehör­te immer alles zusam­men. Er lieb­te Men­schen, beson­ders jene, die der Hil­fe bedurf­ten. Er konn­te gar nicht anders. Erhard brach­te Men­schen zusam­men, um zu hel­fen und um mit ihnen zusam­men zu sein. Wo er war, da men­schel­te es. Immer. Da war es immer auch ein wenig bunt und warm. Er brauch­te kei­ne pathe­ti­schen Reden.

Aber es wür­de ihm nicht gerecht, ihn nur als den uner­müd­li­chen Kämp­fer mit dem gro­ßen Her­zen zu sehen. Wenn er etwas anzet­tel­te, dann tat er das immer auch, weil er eine tie­fe Sehn­sucht danach hat­te, Teil eines Gan­zen zu sein.

Er war „ein­zeln und frei“, wie es der von ihm ver­ehr­te Han­nes Wader in einem Lied sang. Aber er woll­te immer auch dazu gehö­ren – und geliebt wer­den. Bei ihm gab es immer „die­sen Hun­ger, die­se Gier, nach Schön­heit, Lie­be, nach dem Leben“, wie es in einem ande­ren Wader-Lied heißt.

Wir wis­sen nicht, was ihm durch den Kopf gegan­gen sein mag, wenn er bei sei­nen Spen­den­sam­mel­tou­ren wochen­lang allein auf sei­nem Fahr­rad tau­sen­de Kilo­me­ter durch Euro­pa fuhr. Sol­che Extrem­sport-Pro­jek­te haben ja immer ihre eige­nen Hin­ter­grün­de. Aber wir kön­nen wohl sicher sein, Erhard emp­fand sich durch sei­ne jewei­li­gen sozia­len Pro­jek­te immer mit sehr vie­len Men­schen sehr kon­kret verbunden.

Selbst so allein im Irgend­wo an einem Stra­ßen­rand vor Istam­bul,  St. Peter­burg oder Gibral­tar brauch­te er für sich wohl immer auch das Gefühl, zu etwas Grö­ße­rem zu gehö­ren. Dafür leis­te­te er sei­nen ganz per­sön­li­chen Bei­trag. Nie wäre es ihm dabei in den Sinn gekom­men, die teil­wei­se erheb­li­chen Auf­wen­dun­gen für sei­ne Aus­rüs­tung, Ver­pfle­gung, Über­nach­tun­gen usw. auch nur irgend­wie mit den gesam­mel­ten Spen­den zu „ver­rech­nen“. Und weil das so war, steck­te in jeder sei­ner Aktio­nen zusätz­lich zu allem per­sön­li­chen Herz­blut, sei­nem jewei­li­gen Jah­res­ur­laub und aller Arbeit immer auch noch ein erheb­li­cher mate­ri­el­ler Anteil, der eigent­lich nie wirk­lich gese­hen und auch nie gewür­digt wurde.

Spä­tes­tens an die­ser Stel­le stellt sich die Fra­ge, wie wird eigent­lich so einer, der in kein Sche­ma passt, der eigen ist und alles ande­re, als strom­li­ni­en­för­mig – wie wird so einer über vier Jahr­zehn­te zu einem Beam­ten des Finanz­am­tes für Steu­er­straf­sa­chen und Steu­er­fahn­dung? Einen wie Erhard stellt man sich vor mit wehen­den Haa­ren, in läs­si­ger Cord­ho­se und mit karier­tem Hemd als Leh­rer, sagen wir, für Deutsch und Geschich­te. Einer, den sei­ne Schü­ler lie­ben, weil er ihnen den Kas­par Hau­ser erklärt und die Lei­den des jun­gen Wert­her leben­dig macht.

Und genau das hät­te Erhard wohl eigent­lich wer­den wol­len. Dass er es nicht wur­de, ist wohl nur aus sei­ner ganz per­sön­li­chen Geschich­te zu erklä­ren. Nach dem Abitur hat­te er sich an der Uni Müns­ter für ein Lehr­amts­stu­di­um bewor­ben. Aller­dings war es wegen des dama­li­gen Nume­rus Clau­sus unsi­cher, ob er ange­nom­men wor­den wäre. Also bewarb er sich zusätz­lich bei der Finanz­ver­wal­tung. Die­ser Weg hat­te für ihn zwei Vor­tei­le. In den 1970er Jah­ren war – nicht nur in Lip­pe – noch die aus der Nazi-Zeit über­nom­me­ne Erzie­hungs-Rhe­to­rik ver­brei­tet, Kin­der soll­ten ihren Eltern nicht „auf der Tasche“ lie­gen. Von ihnen wur­de erwar­tet,  mög­lichst bald „eige­nes Geld zu verdienen“.

Umge­kehrt bot die Anstel­lung als Inspek­to­ren­an­wär­ter beim Finanz­amt für Erhard die Mög­lich­keit, sich von zuhau­se unab­hän­gig zu machen. Es ging ihm also nie dar­um, ein­zu­tau­chen, in die Welt der Ärmel­scho­ner- und Schlips­trä­ger. Er such­te eine Mög­lich­keit, „auf eige­nen Bei­nen zu ste­hen.“ Bei die­ser Ent­schei­dung blieb er auch, als er kur­ze Zeit spä­ter doch noch die Zulas­sung für Müns­ter bekam.

Es braucht nicht viel Phan­ta­sie, sich vor­zu­stel­len, dass einer wie Erhard auch kri­ti­sche Bli­cke auf sich zog – sowohl in sei­ner Behör­de als auch im gedie­ge­nen Ambi­en­te wirt­schaft­li­cher Unter­neh­men. Umge­kehrt ist es durch­aus nach­voll­zieh­bar, dass der Steu­er­fahn­der Krull nicht wirk­lich zu beein­dru­cken war, wenn bei­spiels­wei­se ein ost­west­fä­li­scher Fleisch­ba­ron sei­ne Haus­häl­te­rin mit dem Fahr­rad zur Grund­stücks­ein­fahrt schick­te, um den dort war­ten­den Finanz­be­am­ten abzu­ho­len, damit die­ser vor­ab eine Vor­stel­lung der Grö­ße von Besitz, Macht und Ein­fluss bekam, die bei der bevor­ste­hen­den Steu­er­prü­fung berück­sich­tigt wer­den sollten.

Wenn Erhard pri­vat andeu­tungs­wei­se sol­che Din­ge mal durch­bli­cken ließ, war immer zu erken­nen, dass er für sozia­le und Steu­er­ge­rech­tig­keit immer einen kla­ren Kom­pass hat­te. Manch­mal einen kla­re­ren als sein Dienst­herr, der Steuergesetzgeber.

Dabei zeig­te er bis zuletzt immer auch ein gro­ßes Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein. Noch im Sep­tem­ber die­ses Jah­res woll­te er, wäh­rend sei­ner Krebs­the­ra­pie und nach einer gro­ßen Hüft-OP und Reha, noch ein­mal für vier Stun­den täg­lich zurück an sei­nen Arbeits­platz, um den Kol­le­gen kei­nen unbe­ar­bei­te­ten Fall zu hinterlassen.

Vor allem in den letz­ten bei­den Jah­ren, als er wuss­te, es wird ernst, wirk­te es, als woll­te er dem Krebs davon­lau­fen. Und zwi­schen­durch sah es für kur­ze Zeit auch tat­säch­lich immer wie­der mal so aus, als könn­te er die­sem mie­sen Ver­rä­ter tat­säch­lich ein Schnipp­chen schlagen.

Wie ein Schwamm muss er in die­sen zwei Jah­ren ver­sucht haben, schö­ne Bil­der, beson­de­re Orte, außer­ge­wöhn­li­che Erleb­nis­se und die Tref­fen mit Men­schen auf­zu­sau­gen. Jeweils zwi­schen sei­nen teil­wei­se sehr belas­ten­den Krebs­be­hand­lun­gen reih­ten sich da Rei­sen nach Tan­sa­nia, Marok­ko, Tscher­no­byl, Ita­li­en, Mal­lor­ca, Irland, die deut­sche Ost­see­küs­te, dazu zwei­mal Öster­reich, mehr­fach Polen und der Besuch ver­schie­de­ner euro­päi­scher Weih­nachts­märk­te anein­an­der. Auch jetzt, wäh­rend wir uns hier von ihm ver­ab­schie­den, woll­te er eigent­lich den Weih­nachts­markt in Stet­tin besuchen.

Nicht zu ver­ges­sen, in all die­ser Zeit war er immer wie­der und auch sehr inten­siv für uns da, für sei­ne Fami­lie und sei­ne Freun­din­nen und Freunde.

(…)

Wohl Anfang Okto­ber schrieb er auf sei­ner Inter­net­sei­te mit dem schö­nen Namen Regen­bo­gen­jim­my sei­nen letz­ten Ein­trag. Er lau­tet: „Aus gesund­heit­li­chen Grün­den wird es wohl kei­ne Rei­se mehr geben. An Texel über den Jah­res­wech­sel  kann ich nicht mehr glau­ben. Vie­le Urlaubs­wün­sche blei­ben uner­füllt. Ich hat­te aller­dings ein erfüll­tes Leben.“

Ja, Du Guter, das hat­test Du wohl. Du hast etwas dar­aus gemacht.

Jetzt ist – um in Dei­nem Bild zu blei­ben – der Jim­my über den Regen­bo­gen gegan­gen. Wie wir Dich ken­nen, bist Du aber ver­mut­lich wohl dar­über gera­delt. Ganz sicher hast Du vie­le Din­ge bewegt. Viel mehr, als man­che Men­schen über­haupt für mög­lich hal­ten. Vor allem hast Du dabei Her­zen erreicht und Spu­ren hin­ter­las­sen. Auch, aber nicht nur im Her­for­der Stadtbild.

Für sehr vie­le Men­schen gibt es unglaub­lich vie­le Orte, an denen sie immer wie­der an Dich erin­nert wer­den. Weil sie dort mit Dir geses­sen, gere­det und geträumt haben – manch­mal sogar die Welt ein klein wenig ange­neh­mer und wär­mer machen durften.

Dan­ke, Erhard, mögest Du lächeln und Dei­ne Ruhe fin­den. Du hast es verdient.

Dan­ke, dass es Dich für uns gab.

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4 Kommentare

  1. Carla H.

    Lie­ber Erhard,
    Ich kann­te dich in dei­nem frü­he­ren Leben, als du noch in Oer­ling­hau­sen mit dei­ner Fami­lie gewohnt hast. Als Paten­tan­te dei­ner klei­nen Toch­ter war ich oft bei euch.

    Dann trenn­ten sich die Wege, ich zog ins Ruhr­ge­biet. Das Inter­net macht es mög­lich, den ande­ren wie­der­zu­fin­den. Ich habe von dei­nen Rei­sen gele­sen und letz­tes Jahr von dei­nem Tod. Tief betroffen…bin gera­de an der Ost­see und habe sehr an dich und dein Schaf­fen gedacht. Du hast die Welt bun­ter und wär­mer gemacht.

  2. Peter Wilinski

    Ich kann nur schrei­ben, Dan­ke Erhard, dass ich Dich ken­nen ler­nen dürf­te. Der Welt ist ein GROSSER MENSCH durch den (Sche…Krebs) genom­men wor­den! Sei es für afri­ka­ni­sche Kin­der, Seh­bril­len gesam­melt. Für Kin­der, die durch ihren Alko­hol­kon­sum der Müt­ter, mit Behin­de­run­gen auf die Welt kamen! Einen Kino­abend für älte­re Mit­be­woh­ner die­ser Umge­bung in der Haupt­schu­le May­er­feld Kino­aben­de orga­ni­siert. Ich kann nicht alles auf­zäh­len, was die­ser Engel (obwohl er nicht gläu­big war) alles für die Men­scheit getan hat. Mein Respekt und auch Freund­schaft wird immer bei Dir sein. Vie­len Dank

  3. Cornelia Krüger

    Noch viel Neu­es und bis­her Unbe­kann­tes über einen immer schon ganz lie­ben Klas­sen­kol­le­gen aus der gemein­sa­men Schul­zeit in Oer­ling­hau­sen erfah­ren. Was für eine aus­ser­ge­wöhn­li­che Moti­va­ti­on und Tat­kraft, was für ein Leben!

  4. S.Koch

    Groß­ar­ti­ge Wür­di­gung eines Freun­des, man könn­te die Wor­te nicht bes­ser wäh­len … sehr berührend!

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