Das Oetzmann-Lied

Ist das Kunst, oder kann das weg? – Manch­mal ahnen Men­schen gar nicht, wel­che Bedeu­tung bestimm­te Din­ge haben. Das Oetz­mann-Lied gehört für mich in die­se Kate­go­rie. Ich stieß dar­auf bei ver­schie­de­nen Gesprä­chen mit Her­for­der Zeit­zeu­gen — nicht sel­ten mit einer weg­wer­fen­den Hand­be­we­gung: „Ach, das ist doch nichts Beson­de­res.“ — Doch, das ist es! Es ist viel­leicht kei­ne Kunst, aber es ist span­nend, außer­ge­wöhn­lich, wit­zig. Das darf nicht weg. Es soll­te auch auf kei­nen Fall ver­ges­sen werden.

 

Dass Fern­seh­for­ma­te wie die »Hit­pa­ra­de der Volks­mu­sik« oder »Musi­kan­ten­stadl« etwas mit Musik aus dem Volk zu tun haben, glau­ben ver­mut­lich nur die wenigs­ten. Der Begriff Volks­lied scheint viel zu oft sinn­ent­leert, wenn zünf­ti­ge Blech­blas-Kapel­len auf schun­keln­de Trach­ten­trä­ger treffen.

AkkordeonspielerSpott­lie­der haben eine lan­ge Tra­di­ti­on unter den wirk­li­chen Volks­lie­dern. In ihnen machen die Men­schen — in der Regel die soge­nann­ten Klei­nen Leu­te — sich »ihren eige­nen Reim« auf die Welt. Beson­ders auf die Herr­schen­den und auf die herr­schen­den Ver­hält­nis­se. Die­se Tra­di­ti­on scheint in den Zei­ten von You­tube und trag­ba­ren Abspiel­ge­rä­ten für Musik. zu ver­schwin­den. Dabei war Musik auch vor der Ära der all­ge­gen­wär­ti­gen Unter­hal­tungs­elek­tro­nik schon über­all — nur ein wenig anders.

Die Atmosphäre, in der Lieder entstehen

Bei der Arbeit wur­de gesun­gen, gleich­gül­tig ob »auf dem Bau« oder beim Wäsche­wa­schen, ob hin­ter dem Lenk­rad oder beim Wan­dern. Auch bei Fami­li­en­fei­ern gab es fast immer jeman­den, der eine Gitar­re, eine Mund­har­mo­ni­ka oder eine »Quet­sche« (Akkor­de­on) her­aus­hol­te. Musik wur­de nicht nur gehört. Sie wur­de vor allem selbst gemacht.

Aus einer Zeit, in der zum Wan­dern noch kei­ne »Funk­ti­ons­klei­dung« üblich war, son­dern eine Wan­der­gi­tar­re zur Beglei­tung beim Sin­gen. Ent­spre­chend trug die­ses Modell der Fir­ma Framus aus den 1950er Jah­ren den Namen »Wan­der­lust«.

Das war die Atmo­sphä­re, in der auch Lie­der ent­ste­hen konn­ten. Ein­fach so, aus der Situa­ti­on her­aus, ganz spon­tan. Volks­lie­der eben. Vor allem Spott­lie­der ent­stan­den so.

Wo genau das Oetz­mann-Lied ent­stan­den ist, ist unbe­kannt. Auch von wem der Text stammt, ist ver­mut­lich nicht mehr zu ermit­teln. Als Melo­die dien­te das welt­be­kann­te »Lili Mar­leen«. So ent­stand ein Volks­lied im aller­bes­ten Sinn. Dann war es ein­fach da. Jetzt gehör­te es allen. Volks­ei­gen­tum,. ganz ohne Verstaatlichung.

Das Lied  ent­stand in den Jah­ren nach 1945, als es Lebens­mit­tel nur auf Mar­ken zu kau­fen gab. Beson­ders Fleisch war knapp. Rind- und Schwei­ne­fleisch waren zu Luxus­gü­tern gewor­den. Wer sie sich nicht erlau­ben konn­te, stell­te sich dort an, wo es das »Arme-Leu­te-Fleisch« zu kau­fen gab. Bei der »Frei­bank« am Städ­ti­schen Schlacht­hof und vor der Pfer­de­schlach­te­rei. Die »Klei­nen Leu­te« erkann­te man auch dar­an, wo sie einkauften.

Oetzmann, Credenstraße

Hier kauf­ten die Her­for­de­rin­nen und Her­for­der ihr »Trab-trab«. In der Ross-Schläch­te­rei Hein­rich Oetz­mann in der Credenstraße.

In Her­ford gab es zwei soge­nann­te Roß-Schläch­te­rei­en mit dem Namen Oetz­mann. Sie wur­den jeweils von Brü­dern betrie­ben und befan­den sich in der Cre­den­stra­ße und im Hol­land. Dort kauf­ten die Men­schen — wenn es Fleisch gab — ihr »Trab-trab«. (Damals galt Pfer­de­fleisch tat­säch­lich als min­der­wer­tig. Heu­te wird es von Ernäh­rungs­wis­sen­schaft­lern als beson­ders wert­voll eingestuft.)

Aus die­ser Geschich­te ent­stand der Liedtext:

Die »Wiederentdeckung« des Oetzmann-Liedes

Als ich im Sep­tem­ber 2009 in der Her­for­der Volks­hoch­schu­le erst­mals einen Vor­trag »Vom Kriegs­en­de zum Wirt­schafts­wun­der“ hielt, habe ich mit den rund 120 Besu­chern — nach kur­zem »Üben« das Oetz­mann Lied gesun­gen. Das war ver­mut­lich das ers­te Mal, dass es öffent­lich vor­ge­tra­gen wur­de. Die­ses wahr­haft his­to­ri­sche Ereig­nis wur­de damals — ohne mein Wis­sen — von Moni­ka Schwid­de, der VHS-Lei­te­rin mit einer der ers­ten Han­dy-Kame­ras spon­tan gefilmt. Die Schwä­chen der dama­li­gen Tech­nik erklä­ren die klei­nen Män­gel bei der Bild- und Ton­quli­tät. Ich dan­ke Frau Schwid­de sehr, dass sie mir den Film für die Ver­öf­fent­li­chung zur Ver­fü­gung gestellt hat.

Wie ver­brei­tet das Lied ein­mal gewe­sen sein muss, erken­nen Sie an die­ser klei­nen Epi­so­de: »Geübt« hat­te ich mit den Zuhö­rern nur den ers­ten Teil des Lie­des. Ab „Und alle Leu­te …“ woll­te ich allein wei­ter sin­gen. Aber hören Sie mal genau hin. Es saßen offen­sicht­lich eini­ge im Saal — vor allem Frau­en — die das Lied kann­ten — und text­si­cher mit­ge­sun­gen haben. Ein ech­tes Aha-Erlebnis …

 

Die­sen Bei­trag wei­ter empfehlen:

2 Kommentare

  1. Erhard Krull

    Lie­ber Dieter,
    es sind gera­de die klei­nen Din­ge, auch der­ar­ti­ge Lie­der, die viel über die dama­li­ge Zeit und das Leben der ein­fa­chen Men­schen aussagen.
    Als ich die­sen Text las, muss­te ich schmun­zeln. Gera­de vor ein oder zwei Tagen habe ich mich über die bei­den mir bekann­ten Lie­der zum Ham­bur­ger Sül­ze­auf­stand schlau gemacht. Der Auf­stand fand vor genau 100 Jah­ren statt und kos­te­te min­des­tens 80 Men­schen das Leben. Zum Jah­res­tag wur­de über den Auf­stand berich­tet. Die bei­den Lie­der dar­über haben bis heu­te über­lebt. Na ja, das Lied “War­te, war­te noch ein Weil­chen” ist in die­sem Zusam­men­hang sicher zu makaber 😉
    Dein Schreib­stil und Dei­ne akri­bi­sche Arbeit gefal­len mir aus­ge­spro­chen gut und ich bin gespannt, wohin Dich Dei­ne Spu­ren­su­che noch führt.

    • Dieter Begemann

      Lie­ber Erhard!
      Na, Du liest ja Sachen ;-). — Hab Dank für Dei­ne freund­li­chen Wor­te. Ja, es seht fast so aus, als käme manch­mal nicht nur erst das Fres­sen und dann die Moral. Hier und da kommt schein­bar sogar noch ein klei­nes Stück Musik dazu.

      P.S. Natür­lich hat Erhard Krull abso­lut Recht, wenn er mit dem Ham­bur­ger Sül­ze­auf­stand dar­auf auf­merk­sam macht, dass Hun­gers­not und sozia­le Pro­tes­te zusam­men­ge­hö­ren. Infor­ma­tio­nen zu den Ham­bur­ger Ereig­nis­sen gibt’s übri­gens u.a. hier:
      https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BClzeunruhen
      und hier, u.a. mit einem klei­nen NDR-Film zum Thema:
      https://www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/Die-Suelze-Unruhen-in-Hamburg,suelzeunruhen100.html
      Aller­dings soll­te man deut­lich dar­auf hin­wei­sen, dass es bei dem Her­for­der Oetz­mann-Lied nie­mals um Gam­mel­fleisch gegan­gen ist. Die Schläch­te­rei­en Oetz­mann hat­ten einen guten Ruf.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© 2024 Dieter Begemann

Theme von Anders NorénHoch ↑