Erinnerung an den »vergessenen« Oskar Aschoff
In Wolfgang Staudtes bissiger Nachkriegs-Filmsatire »Rosen für den Staatsanwalt« wird der Gefreite Rudi Kleinschmidt, gespielt von Walter Giller, von einem deutschen Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Der »Grund« dafür waren zwei kleine Dosen Wehrmachts-Schokolade, die er sich »organisiert« hatte.
Nicht nur die äußere Erscheinung des schmächtigen Rudi sorgt dafür, dass man unwillkürlich an diese Filmfigur denken muss, wenn man auf die Geschichte des Herforders Oskar Aschoff stößt. Auch ihm hätte man, wie der Volksmund sagt, „das Vaterunser durch die Rippen pusten“ können. Als er 1943 mit 18 Jahren zu den Pionieren nach Minden eingezogen wurde, war er Maschinenarbeiter in der Herforder Bürstenfabrik König & Böschke. Aber eigentlich, so beschrieb ihn seine Schwester, „war er noch ein ganz unbedarfter Junge.“ In manchem eher ein schüchternes Jüngelchen.
Mit so einem machten die Stubenältesten in der Kaserne gerne derbe Scherze. Einen wie ihn schickten sie los, um bei den Bauern in den umliegenden Dörfern etwas „zu futtern“ für das Saufgelage am Wochenende zu organisieren. Als er tatsächlich mit einer dicken Mettwurst zurückkam, machten die Platzhirsche trotzdem weiter ihre Witze mit ihm. Eine solche Wurst könne er doch nur geklaut haben, behaupteten sie. Und weiter: Wenn das herauskäme, käme er vor ein Kriegsgericht.
Flucht aus Angst vor dem Kriegsgericht
Oskar Aschoffs großer Bruder Heinz war schon seit 1938 beim „Barras“. Von ihm wusste er, wenn das Wort „Kriegsgericht“ fiel, wurde es ernst. Todernst. Er bekam Angst. Er schlich sich aus der Kaserne und stieg am Mindener Bahnhof in einen Zug Richtung Holland. Seine Schwester lebte dort in Utrecht. Bei ihr wollte er sich verstecken.
Die Sache mit der Flucht nach Holland kannte er aus der Familie. Sein Bruder Max, ein Kommunist, hatte bis 1933 in Recklinghausen gelebt. Als er damals von der Gestapo verhaftet werden sollte, floh er mit dem Fahrrad über die Grenze.
Auch für Oskar hätte die Flucht gut gehen können. Hätte – wenn er beim schnellen Aufbruch in der Kaserne nicht seine Uniformmütze vergessen hätte. So hatte der Pionier Aschoff keine Chance, als Feldjäger den Zug an der Grenze kontrollierten.
Er wurde nach Bielefeld gebracht, zum Hauptquartier der 176. Division. Dort besaß Kriegsgerichtsrat Dr. Fritz Rheinen die juristische Deutungshoheit für „Führergehorsam“ und „Manneszucht“ deutscher Soldaten. In seiner Amtszeit wurden vom Kriegsgericht in der Ravensberger Straße 123 mindestens 27 Todesurteile gegen Divisionsangehörige gesprochen und vollstreckt. Die Dunkelziffer ist unbekannt. Vieles andere auch.
Nur das Aktenzeichen ist bekannt
Das Schriftgut des Kriegsgerichtes wurde gegen Kriegsende vernichtet. Vermutlich sollte es nicht den anrückenden Alliierten in die Hände fallen. Deshalb ist auch das Todesurteil gegen Oskar Aschoff nicht erhalten geblieben. Nicht einmal die genaue Anklage und das Datum des Urteils sind überliefert. Nur das Aktenzeichen „I 41/44“ wurde später bei seiner Hinrichtung notiert.
Es darf als sicher angenommen werden, dass ihm vorgeworfen wurde, er sei desertiert. Denkbar, dass ihm seine geplante Flucht ins Ausland als strafverschärfend angelastet wurde. Niemand weiß ob auch der angebliche Wurstdiebstahl eine Rolle spielte.
Todesurteile gegen Soldaten sind mit dem Klischeebild einer Hinrichtung durch ein Erschießungskommando im Morgengrauen verbunden. Die Realität in Nazi-Deutschland sah anders aus. Als 1943 mit der Brutalisierung des Krieges auch die Zahl der Todesurteile gegen die eigenen Soldaten enorm anstieg, ermächtigte Hitler die militärischen Befehlshaber, selbst zu entscheiden, ob die Verurteilten erschossen, enthauptet oder erhängt werden sollten. Im Sinne einer Rationalisierung des Vollzugs konnten nun auch „zivile“ Hinrichtungsstätten in Anspruch genommen werden. Die Bielefelder Todesurteile der 176. Division wurden ab jetzt mit der Fallbeilmaschine im Dortmunder Gefängnis vollstreckt.
Die Hinrichtung Oskar Aschoffs erfolgte am 2. Mai 1944, um 18.11 Uhr. Er war an diesem Tag der fünfte von mindestens sieben Delinquenten. Vier Monate später wurde an gleicher Stelle der Herforder Heiko Ploeger ermordet. Er wurde auf dem Dortmunder Hauptfriedhof beerdigt. Seine Angehörigen erfuhren nichts von seinem Grab. In den 1950er Jahren wurden die in Dortmund hingerichteten Opfer in ein besonderes Gräberfeld umgebettet. Auch davon erfuhr in Herford niemand etwas, bis zur Veröffentlichung dieser Geschichte im Jahr 2012.
In „Rosen für den Staatsanwalt“ wird die Hinrichtung des Rudi Kleinschmidt durch glückliche Umstände in letzter Minute verhindert. Er überlebt, aber tut sich schwer, seinen Platz im Nachkriegsdeutschland zu finden. Ein paar Jahre später trifft er den Kriegsgerichtsrat, der seinen Tod gefordert hatte, zufällig auf der Straße wieder. Längst ist der einstige Vollstrecker des Führerwillens zum gutsituierten Bundesbürger mutiert. Als demokratisch gewendeter Landgerichtsrat hat er seine blutrünstige Vergangenheit verschwiegen und verhilft nun einem gefürchteten Antisemiten zur Flucht vor der Strafverfolgung.
Die Opfer wurden »vergessen« – ihr Richter machte Karriere
Das Überlebensglück des Filmhelden Rudi K. war dem realen Oskar Aschoff nicht vergönnt. Hätte er es gehabt, hätte ihm auch Dr. Fritz Rheinen durchaus auf der Straße begegnen können. Der ehemalige Kriegsgerichtsrat fand schnell einen geachteten Platz in der Bundesrepublik. Er wurde Landgerichtsdirektor in Duisburg. Seine Personalakte hatte – ein Schelm, wer Böses dabei denkt – den Krieg nur unvollständig überstanden.
Auch Oskar Aschoffs Akten wurden bereinigt. Ohne jeden weiteren Hinweis erhielt seine Herforder Melderegisterkarte am 30.11.1946 den Eintrag: „von Amts wegen abgemeldet.“ Ein 18jähriger, von Staats wegen ermordet, war damit amtlich entsorgt ins bürokratische Nichts. Spurlos verschwunden. Daneben blieb nur der Hinweis, für diesen Verwaltungsakt würden von den Angehörigen keine Gebühren erhoben.
Auch diese Geschichte hat ein besonderes Nachspiel.
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