„(…) Jetzt können ja Kaufmann und Barthel (Dürkoppwerke) stolz sein, sie haben ihren Willen, aber sie haben den Staat dazu benutzt, um einen Justizmord zu begehen. Ihnen trifft hoffentlich die Strafe, die sie verdienen. Es ist bitter, so kurz vor Toresschluss noch zu sterben. (…)“
Aus dem Abschiedsbrief Heiko Ploegers an seine Ehefrau Henny, seine Eltern und Geschwister
Als Heiko Ploeger diese Sätze schrieb, hatte er nur noch kurze Zeit zu leben. Sie gehören zu den wenigen Zeilen, die er am 15. September 1944 – gefesselt an Händen und Füßen – noch schreiben konnte. Zwei Stunden später wurde er hingerichtet. Getötet mit der Fallbeilmaschine im Dortmunder Gerichtsgefängnis.
Im Jahr 1988 habe ich eine Biographie Heiko Ploegers vorgelegt. Sie erschien unter dem Titel »„Ich hoffe, dass ein freieres Deutschland für Euch entsteht.“ Das Schicksal des 1944 hingerichteten Arbeiters Heiko Ploeger«. Es kann nicht überraschen, dass dieses Buch, 35 Jahre danach, nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand entspricht.
Viele wichtige Quellen waren damals überhaupt noch nicht zugänglich. Dies betrifft unter anderem NS-Dokumente und Schriftgut, das erst nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bekannt und zugänglich wurde. Ebenso geht es jedoch um Quellen, die in Behörden oder in Privatbesitz schlummerten, ohne dass ihre Bedeutung für die historische Forschung erkannt wurde. Nicht zu vergessen sind auch jene behördlichen und privaten Informationen und Dokumente, die jahrzehntelang bewusst zurückgehalten wurden, damit sie nicht öffentlich werden konnten.
Im Lauf der vergangenen Jahre habe ich viele dieser Quellen im In- und Ausland zusammengetragen. Inzwischen wäre es zweifellos möglich, eine überarbeitete Neuauflage meiner Biographie Heiko Ploegers zu publizieren. Die veränderte Quellenlage erlaubt inzwischen jedoch viel mehr. Jetzt besteht die einmalige Gelegenheit, mit neuen Fragestellungen bisher unbekannte Themenfelder auszuleuchten und zu neuen Ergebnissen zu finden. Und dabei zeichnet sich bereits nach den ersten Recherchen, ein ungeheurer Sumpf von Unrecht und Verbrechen ab.
Für Heiko Ploeger war es offensichtlich, dass an ihm ein Verbrechen begangen wurde. Ein Mordkomplott. Er bezeichnete es als »Justizmord«. Der Vorwurf klingt ungeheuerlich. Er macht den Abschiedsbrief auch zu einer Anklage. Nur die wenigsten Häftlinge der NS-Zeit hatten die Chance, Briefe aus den Gefängnissen und Lagern zu hinterlassen. Noch seltener war es, dass sie Namen derer nennen konnten, die sie für Unrecht verantwortlich machten. Natürlich müssen die Aussagen in einem Brief aus der Todeszelle mit besonderer Verantwortung beachtet werden. In Ploegers Fall wurden, wie in unzähligen anderen Fällen, jedoch nie Ermittlungen aufgenommen. Fast achtzig Jahre danach ist das nicht länger akzeptabel. Der Anfangsverdacht einer Straftat ist offensichtlich. Und: Mord verjährt nicht.
Die Ermittlungen beginnen also bei Ploegers Anklage aus dem Abschiedsbrief. Was verbindet die drei so unterschiedlichen Personen:
- den Schlosser Heiko Ploeger, der in bescheidenen Verhältnissen mit seiner Ehefrau Henny im Hinterhaus einer Herforder Kohlenhandlung lebte;
- den Bielefelder Gestapobeamten Karl Kaufmann, der für seine Brutalität gefürchtet wurde;
- den Unternehmer Georg Barthel, Eigentümer der Bielefelder Dürkopp AG, der in den Nachschlagewerken der Wirtschaftswunderjahre als ein führender Mann der bundesdeutschen Wirtschaft bezeichnet wurde.
Eine Spurensicherung an damaligen Tatorten ist heute nicht mehr möglich. Es werden viele Indizien erforderlich sein, um mögliche Überschneidungen in den Profilen von Opfer und möglichen Tätern zu finden. Dafür ist es nötig, zunächst die Biographien der drei Personen zu recherchieren. Es ist absehbar, dass dabei ein Bild unterschiedlicher Lebenswelten und Arbeitsbedingungen während der NS-Zeit entstehen wird. Insbesondere in der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Heiko Ploeger und seinen Kollegen wurden unter anderem »Rundfunkverbrechen« zur Last gelegt. Was bedeutete dieser Vorwurf? Was machte das Radiohören kriminell in einem Land, in dem doch möglichst alle »Volksgenossen« einen sogenannten Volksempfänger besitzen sollten? Drohte wirklich bereits für das einfache Hören sogenannter Feindsender die Todesstrafe? Welche Bedeutung hatte der Rundfunk für Widerstand und Verfolgung? Weshalb lag ein Schwerpunkt auf der Verfolgung von Angehörigen der Arbeiterbewegung. Welche weiteren Verbrechen wurden ihnen vorgeworfen und warum?
Wie arbeitete die Gestapo in der Provinz und wie sah der »Dienstalltag« eines ganz normalen Gestapobeamten aus? Was genau tat Karl Kaufmann zwischen 1933 und 1945? Wie verlief seine Karriere im NS-Staat? Welche Rolle spielte der Unternehmer Georg Barthel? Was brachte ihn in Verbindung mit der Gestapo? Was bedeutete das für die Beschäftigten seiner Werke?
Der NS-Staat gilt als Unrechtsregime. Aber wie funktionierte das Zusammenwirken von Polizei und Justiz in den Fällen von Ploeger und seinen Kollegen konkret? Gab es niemanden, der etwas für die Inhaftierten tun konnte? Woran klammerten sie ihre Hoffnungen?
Über das Leben in den Gefängnissen und Lagern des NS-Staates scheint bereits alles bekannt. Aber was bedeutete es konkret, inhaftiert zu sein in Gefängnissen im Zentrum von Städten wie Bielefeld, Hamm oder Dortmund? Gefängnisse, vor deren Mauern – nur wenige Meter von den Gefangenen entfernt – auf Bürgersteigen und Straßen das ganz normale Leben weiterging? Wie veränderte sich das Leben für die Familien der Inhaftierten?
Der Gestapobeamte Karl Kaufmann und der Unternehmer Georg Barthel sind verstorben. Sie und auch weitere Verdächtige können nicht mehr befragt werden. Das ist, als würden sie als Beschuldigte bei heutigen Ermittlungen von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen. Die Akten der Bielefelder Gestapo sind weitgehend vernichtet worden. Damit fehlen wichtige Beweisstücke. Trotzdem ist es nicht aussichtslos, hinter die Mauern des Schweigens zu blicken.
Zusammengetragen aus unterschiedlichen deutschen und ausländischen Archiven, ermöglichen es Gerichtsverfahren, staatsanwaltliche Ermittlungen und Zeugenaussagen der Nachkriegszeit durchaus, ein aussagefähiges Bild von der Wirklichkeit hinter Gefängnistüren und in Gestapokellern zu erhalten. Sonstige amtliche Schriftstücke, private Dokumente und die Aussagen von Zeitzeugen machen Einblicke noch konkreter.
Heiko Ploeger ging im September 1944 vom baldigen Ende des Nazi-Regimes aus. Es sei bitter, so schrieb er wenige Monate vor dem Kriegsende, „so kurz vor Toresschluss noch zu sterben.“ Er setzte seine Hoffnung darauf, dass die Verantwortlichen für seinen Tod die Strafe erhielten, „die sie verdienen.“ Das stellt die Frage nach der Nachkriegsjustiz. Welche Rolle spielte Ploegers Tod und auch die Tötung seiner Kollegen für Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Politiker und sonstige Behörden nach 1945 – vor Ort und im Nachkriegsdeutschland?
Was wurde aus Karl Kaufmann, Georg Barthel und sonstigen Beteiligten? Gab es eine Chance für jene Gerechtigkeit, auf die Heiko Ploeger hoffte? Wieviel davon wurde verwirklicht? Welche Kräfte, Seilschaften, »alte Kameraden« und »stille« Helfer(innen) versuchten, das zu verhindern? Wie gingen diese vor? Waren sie sichtbar? Wer stellte sich ihnen entgegen?
Wie ging die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit dem Gedenken an die Opfer um – konkret am Beispiel Ploegers und seiner Kollegen, aber auch generell? Welche Folgen hatte der Umgang mit der Geschichte der Getöteten für die Hinterbliebenen? Für Lebenspartner, Eltern, Geschwister, Kinder, Freundinnen und Freunde, Nachbarn und andere – über die Jahrzehnte seit 1945 bis heute?
Und was bedeutete »die Geschichte« für die Angehörigen der »Täter«? Auch sie konnten ihr nicht ausweichen, sondern mussten mit einer schweren Vergangenheit umgehen und leben, für die sie selbst keine Verantwortung trugen.
Was ist aktuell der Stand der Dinge?
Die Ermittlungen zu diesem Projekt sind weitgehend abgeschlossen. Die Auswertungen laufen. Für mich läuft alles darauf hinaus, die Ergebnisse in einem Buch zu veröffentlichen. Ergänzende Dinge, wie Vorträge oder Darstellungen von Einzelaspekten im Internet, sind möglich.
Ich veröffentliche diese Projektbeschreibung jetzt. Für einen überschaubaren Zeitraum besteht noch eine Gelegenheit, um Hinweise, Fotos oder Dokumente einzubringen. Durch meine Forschungen weiß ich von solchen Dingen. In den 1960er Jahren befanden sich z.B. einzelne Briefe aus den Gefängnissen und Fotos noch in Privatbesitz. Dann verliert sich ihre Spur, aber so etwas wirft man nicht weg. Jetzt kann es wichtig sein. Das gilt auch für mündliche Hinweise. Es geht mir um eine letzte Gelegenheit, Dinge ausfindig zu machen. Jetzt können sie noch eine Geschichte erzählen oder ergänzen. In wenigen Jahren könnten sie verschwunden sein, oder ihr Wert ist für Nachgeborene nicht mehr erkennbar. Dabei garantiere ich absolute Vertraulichkeit.
Ich werde in der kommenden Zeit in unregelmäßigen Abständen auf meiner Spurensuche-Internetseite über den Fortgang meiner Arbeit berichten:
Sie erreichen mich unter meiner mail-Adresse:
oder telefonisch unter:
01525 — 3402452